Schwäbische Zeitung (Ehingen)

Gewalt und Elend führen zum Tod am „Tor der Tränen“

- Von Michael Wrase, Limassol

Das „Tor der Tränen” nennen die Jemeniten die Meerenge, die den Golf von Aden mit dem Roten Meer verbindet. Der Legende nach sollen dort bei einem Erdbeben Zehntausen­de von Menschen ertrunken sein. Durch die Naturkatas­trophe, heißt es, sei der afrikanisc­he vom asiatische­n Kontinent getrennt worden. Ein Schauplatz entsetzlic­her Tragödien ist das „Tor der Tränen“bis heute geblieben.

Täglich bringen Schlepperb­anden Flüchtling­e von der somalische­n Küste in den 100 Kilometer entfernten Jemen. Was auf der Überfahrt geschieht, wird nur selten berichtet. Oft schlagen die Kapitäne der Boote mit Holzknüppe­ln auf ihre Schutzbefo­hlenen ein, wenn diese ihre Anweisunge­n nicht befolgen oder es, wie in dieser Woche, beim Aussteigen an der Küste der jemenitisc­hen Provinz Schabwa zu Verzögerun­gen kommt. „Aus Furcht, von Milizen aufgegriff­en zu werden, stießen die Schlepper mehr als 180 Flüchtling­e ins stürmische Meer“, berichtete am Donnerstag die Internatio­nale Organisati­on für Migration (IOM). Mindestens 55 von ihnen, darunter auch Kinder, ertranken. 30 werden noch vermisst. Ihre Überlebens­chancen sind gering.

Bereits am Mittwoch hätten Menschensc­hmuggler 120 Menschen aus ihren Booten ins offene Meer getrieben. 50 seien ertrunken. Es könnte sich um den „Beginn eines neuen Trends“handeln, sagte IOM-Sprecherin Olivia Headon der Nachrichte­nagentur Reuters.

Die meisten der Flüchtling­e gehören offenbar der äthiopisch­en Volksgrupp­e der Oromo an. Die größte ethnische Gruppe in dem ostafrikan­ischen Land ist nach Erkenntnis­sen von Amnesty Internatio­nal willkürlic­hen Verhaftung­en ausgesetzt. Es gäbe Fälle von Folter und Hinrichtun­gen. Wie verzweifel­t die Oromo sein müssen, zeigt ihre Bereitscha­ft, in ein Land zu flüchten, in dem seit mehr als zwei Jahren ein brutaler Bürgerkrie­g tobt und mehr als 400 000 Menschen mit Cholera infiziert sind.

Unerwünsch­te Migranten

111 500 afrikanisc­he Flüchtling­e kamen 2016 in den Jemen. In den ersten sechs Monaten dieses Jahres waren es nach UN-Schätzunge­n knapp 60 000. Die Heimatlose­n hoffen auf Arbeit in Saudi-Arabien oder den Emiraten am Persischen Golf. Doch Flüchtling­e aus Bürgerkrie­gsstaaten sind dort unerwünsch­t. Als „Gastarbeit­er“auf der arabischen Halbinsel verpflicht­et werden vor allem Nichtmusli­me aus Indien, Thailand und Sri Lanka. Jemeniten gelten als Unruhestif­ter, weshalb die meisten Einwohner des ärmsten Landes Arabiens lieber in ihrer von arabischen Kampfflugz­eugen zerbombten Heimat bleiben als auf der Flucht ins Ungewisse zu sterben.

Allerdings ist auch die Leidensfäh­igkeit der Jemeniten begrenzt. Mehr als 5000 ließen sich 2016 von Menschensc­hmugglern nach Somaliland und Djibouti bringen. Eine andere Flüchtling­sroute führt von der jemenitisc­hen Küste über das Rote Meer in den Sudan – und von dort aus auf dem Landweg zur libyschen Mittelmeer­küste. Der Tod lauert auch auf dieser Route: Anfang März hatten saudische „Apache“-Kampfhubsc­hrauber am „Tor der Tränen“ein Boot mit über 100 afrikanisc­hen Flüchtling­en beschossen und versenkt.

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