Inge Aicher-Scholl: Eine Frau, die in Ulm tiefe Spuren hinterließ
Schwester von Hans und Sophie Scholl wäre heute 100 Jahre alt geworden - Sie hob zwei bedeutende Einrichtungen mit aus der Taufe
ULM (sz/mö/KNA) - Sie prägte das Ulm der Nachkriegszeit wie kaum eine andere Persönlichkeit: Inge Aicher-Scholl. Ohne ihr Engagement, so Bürgermeisterin Iris Mann, hätte es zwei Einrichtungen in der Stadt nie gegeben: die Volkshochschule (Vh) Ulm und die Hochschule für Gestaltung (HfG). Am heutigen Freitag, 11. August, jährt sich AicherScholls Geburtstag zum 100. Mal.
1917 war sie in Ingersheim bei Crailsheim als ältestes von fünf Kindern zur Welt gekommen. 1932 zog die Familie nach Ulm.
Die Eltern pflegten einen bildungsbürgerlichen Habitus, Literatur und Musik gehörten selbstverständlich dazu. Die Mutter, eine ehemalige Diakonisse, prägte die Kinder mit ihrer Frömmigkeit, der Vater mit seinem Interesse für Politik. Robert Scholl stand dem Nationalsozialismus ablehnend gegenüber, aber bei seinen Kindern konnte er sich damit nicht durchsetzen. Die liebten die Gemeinschaft in den Jugendgruppen und waren fasziniert vom „Führer“.
In der Hitlerjugend übernahm Inge bald Führungsaufgaben. Allerdings kam es zunehmend zu ideologischen Differenzen mit Vorgesetzten. Das Jahr 1937 markierte dann eine Zäsur: Inge, Hans und Werner Scholl wurden von der Gestapo wegen „bündischer Umtriebe“verhaftet. Inge und Werner wurden bald wieder entlassen, aber der Gefängnisaufenthalt bewirkte einen nachhaltigen Schock. Allmählich distanzierte sich Inge vom Nationalsozialismus.
Die orientierungslos gewordene junge Frau wandte sich dem Katholizismus zu — für sie Gegenentwurf zur NS-Ideologie. Großen Einfluss hatte Otl Aicher, ihr späterer Ehemann und ein enger Freund der Familie. Am Todestag von Hans und Sophie, am 22. Februar 1943, konvertierte sie zum Katholizismus. Vom Widerstand ihrer Geschwister wusste sie nichts. Umso größer war der Schock, als die Familie von Verhaftung und Hinrichtung erfuhr. Die Angehörigen wurden ebenfalls inhaftiert, mehrere Monate blieb Inge in „Sippenhaft“.
„Wir verdanken dieser ungewöhnlichen Frau, ihrem Mann Otl Aicher, aber auch der Familie Scholl unendlich viel“, so Bürgermeisterin Mann. Schon im August 1945, wenige Monate nach Kriegsende, begann Otl Aicher im kriegszerstörten Ulm Vorträge zu organisieren, die auf breite Resonanz stießen. Als ihm die Amerikaner die Leitung der zu gründenden Volkshochschule anboten, lehnte er ab und schlug stattdessen Inge Scholl, mit der er damals noch nicht verheiratet war, vor. Unter ihrer Leitung eröffnete die Vh Ulm am 24. April 1946. Sie entwickelte sich zu einer der größten und lebendigsten Einrichtungen ihrer Art. 1974 gab Aicher-Scholl die Leitung ab.
Gemeinsam mit Otl Aicher und weiteren Mitstreitern, darunter Max Bill, setzte sich Inge Aicher-Scholl ab den späten 1940er Jahren für die Gründung einer Hochschule in Ulm ein. 1953 öffnete die Hochschule für Gestaltung, kurz HfG ihre Tore. Bis 1959 leitete Aicher-Scholl als Vorstand die Geschwister-Scholl-Stiftung, die als Trägerin der Schule fungierte.
In der Zeit ihres Bestehens schrieb die HfG Ulm mit Entwürfen für die Firma Braun oder die Deutsche Lufthansa Designgeschichte. 1968 musste die Einrichtung nach internen Querelen schließen. Ihr Erbe wird heute vom HfG-Archiv verwaltet, das seit einigen Jahren im ehemaligen Gebäude der Hochschule auf dem Oberen Kuhberg untergebracht ist.
Auch außerhalb von Ulm engagierte sich Aicher-Scholl. So nahm sie unter anderem als Rednerin an Ostermärschen der Friedensbewegung teil. Ab 1972 lebte die Familie – zusammen mit Otl Aicher, den sie 1952 geheiratet hatte, hatte AicherScholl fünf Kinder – in Rotis bei Leutkirch im Allgäu. Dort starb die große Ulmerin am 4. September 1998.
Lesung erinnert an Aicher-Scholl
Aus Anlass des 100. Geburtstages veranstaltet das HfG-Archiv im Rahmen der Kulturnacht am Samstag, 16. September, eine Lesung mit Briefen aus den Gründungsjahren der HfG Ulm. Die Dokumente zeichnen das Bild einer Frau nach, die mit nie nachlassender Kraft und unermüdlichem Einsatz für eine Sache kämpfte, von deren Wichtigkeit und Bedeutung sie restlos überzeugt war. So gelang es ihr, von amerikanischer Seite eine Million D-Mark für den Bau des Hochschulgebäudes zu erhalten. Auch die Auflage der Amerikaner, eine weitere Million aus deutscher Hand einzuwerben, erfüllte sie durch unermüdliche Arbeit.