Die Phantome der Gegenwart
Schwarze Romantik und Heimat als Horror – eine Bilanz des Filmfestivals von Locarno
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LOCARNO - Das Filmfestival von Locarno ist zwar das kleinste unter den fünf europäischen A-Festivals. Aber das Programm ist das zweitgrößte nach der Berlinale: Rund 300 internationale Filme wurden im Tessiner Kurort an den letzten elf Tagen gezeigt. 18 von ihnen kämpften um den Goldenen Leoparden. Große Stars zeigen sich in Locarno vor allem in den Galas von Filmen außer Konkurrenz, die vor bis zu 8000 Zuschauern auf der Piazza Grande laufen, dem größten Freilichtkino Europas.
Kampf einsamer Männer
Hoch auf dem Berg, da herrschen andere Gesetze. Da begegnen wahre Männer sich selbst, der Natur, „dem Schicksal“und jener „anderen Seite“, nach der von den Höhlenmenschen bis zu den Hippies alle suchen. Gerade im deutschen Film kommen die Berge und die ihnen innewohnende Reduktion von Komplexität gegenüber den Niederungen der Tiefebene wieder in Mode.
Zwei Filme dieser Art liefen beim Filmfestival von Locarno außer Konkurrenz: Jürgen Vogel ist „Der Mann aus dem Eis“in Felix Randaus fiktionaler Einfühlung in das Leben jenes Mannes aus der Jungsteinzeit, der 5300 Jahre nach seinem Ableben aus dem Gletscher auftauchte und als „Ötzi“weltberühmt wurde. Um die spärlichen bekannten Fakten herum hat Randau eine Story erfunden, die allzu bekannt vorkommt: Damals waren alle Ökobauern und eins mit der Natur. Dann wird die Familie ermordet, und Ötzi muss zwischen Todestrieb und Rachelust so etwas wie Verantwortung lernen, bevor ihn der Film gnädig sterben lässt. Der Versuch, sich der neolithischen Kultur zu nähern, ist oft unfreiwillig komisch. Jürgen Vogels Spiel – mit erfundener Primitivsprache, Strubbelbart und kiloschwerem Fellgepäck – wirkt im schlechtesten Sinne wuchtig. Immerhin trösten die großartigen Bilder von Jakub Bejnarowicz über die Ödnis dieser Chronik eines angekündigten Todes hinweg.
Eine zweite, ebenfalls seelische Gletscherlandschaft voller ausgelutschter Mythen errichtet Regisseur Jan Zabeil. In „Drei Zinnen“verschlägt es eine Patchwork-Familie in die Dolomiten. Aron (Alexander Fehling) möchte ein toller Stiefvater für Tristan werden, doch der kleine Ödipus macht es ihm nicht leicht. Irgendwann verlieren sich beide in den Bergen, Arons Bein bricht, das Handy auch, auf Versöhnung am Lagerfeuer folgt neue Pein, beide gehen im Eisloch unter, und nach einer minutenlangen Tauchpartie bei Minustemperatur bricht der deutsche Dickschädel mit dem Kopf durch die Eisplatte wieder an Luft und Licht. Kaum 20 Sekunden Höflichkeitsapplaus beendeten diesen Reinfall auf der Piazza.Beide Filme einen merkwürdige Gemeinsamkeiten: Verzweifelte Männer im aussichtslosen Kampf mit den Elementen; der Berg als Schicksalsort, die Natur als harte Kulisse aus Eis und Fels, zugleich romantisiert zur Heimat aus Nebel, Licht und Sonnenschein. Eine Klischeelawine der Gegenmoderne, die im deutschen Kino eine lange Tradition hat.
Eine Frau auf der Suche
Ganz anders hingegen „Freiheit“, der zweite Film des Berliners Jan Speckenbach (nach „Die Vermissten“) im Wettbewerb. Johanna Wokalek spielt Nora, eine Anwältin, die von einem auf den anderen Moment alles hinter sich lässt: Mann, zwei Kinder, den hochbezahlten Job und das gute Leben in Berlin. Sie tauscht es ein gegen ein prekäres Driften in eine imaginäre Winterlandschaft zwischen Wien und Bratislava. Eigentlich weiß man schon von Anfang an, worauf es hinaus läuft, wenn die Donau als Totenfluß Lethe erscheint, wenn Nora im Kunsthistorischen Museum Breughels Turmbau zu Babel ansieht und dann „Orpheus und Eurydike“, wenn immer wieder aus dem Off Purcells Dido ihre Arie „Remember Me“anstimmt. Die Filmmusik ist großartig.
Es geht in „Freiheit“um die Suche nach Intensität und die Angst vor ihr. In Bildern, die eine düstere Pracht ganz beiläufig mit einem sozialen Kommentar vereinen, parallelisiert er Noras einsame Reise, ihr Warten ohne Ziel mit dem Weiterleben ihres Mannes Philip (wunderbar zwischen Saturiertheit und Zerbrechen: Hans Jochen Wagner) und der Kinder. Der Film ist eine große Leistung, nicht allein weil er unter schwierigen Bedingungen mit wie üblich zu geringer Finanzausstattung entstand, sondern weil er seinen Figuren zur Seite steht, sie nie verrät. Ohne Frage war dies ein Film, der das Niveau, das man vom Wettbewerb in Locarno in den letzten Jahren gewohnt war, klar überschritt. Doch bei der Preisverleihung ging er leider leer aus.
Die Qualität des Wettbewerbs war trotz solcher Highlights insgesamt eher mau. Gewonnen hat mit Wang Bings „Mrs. Fang“ein zwar bildstarker, inhaltlich aber öder Film. Als Dokumentarfilm ist er zudem schwer mit fiktionalen Arbeiten vergleichbar.
Ein Franzose in Hollywood
Von der schwarzen Romantik bei Jan Speckenbach führt ein gerader Weg zurück zum Schaffen von Jacques Tourneur, dem die Retrospektive gewidmet war. Der Franzose in Hollywood arbeitete seit 1938 in der Traumfabrik und wurde zu einem der Begründer des Film Noir, jenes einmaligen Genres, das deutschen Expressionismus und kühl existentialistische Neue Sachlichkeit in die USA importierte und mit der Erfahrung des Krieges zu illusionslosen Dramen verschmolz. Bei Tourneur waren sie oft fantastisch: „I Walked with A Zombie“schrieb er mit dem Emigranten Curt Siodmak. Der Gangsterthriller „Out of The Past" mit Robert Mitchum, Kirk Douglas und Jane Greer handelt dann genau wie „Freiheit“von Sehnsüchten, und dem Widerspruch zwischen dem Wunsch nach Intensität und nach Geborgenheit. Auch hier misslingt der zweite Versuch, ein Leben gelingen zu lassen – und Menschen ergeben sich ihrem Schicksal: dass die Vergangenheit mächtiger ist als die Gegenwart.
Das gilt auch für „Das Kongo-Tribunal“vom Deutsch-Schweizer Milo Rau. Sein großartiges dokumentarisches Theater über den kongolesischen Bürgerkrieg belegt, dass einfache Schuldzuschreibungen nicht taugen: Die Afrikaner beuten sich selbst am gnadenlosesten aus, die verschiedenen Banden im Kongo massakrieren einander auch ohne jede Anleitung aus dem Ausland. Hier ist Heimat der reine Horror.