Brennende Hingabe an ein Meisterwerk
Aribert Reimanns „Lear“begeistert bei den Salzburger Festspielen
● SALZBURG - Aribert Reimanns Oper „Lear“, 1978 an der Bayerischen Staatsoper in München uraufgeführt, ist sicher eines der Hauptwerke des
20. Jahrhunderts. Nach Schostakowitschs „Lady Macbeth von Mzensk“, Bergs „Wozzeck“und Verdis „Aida“reiht sich das Königsdrama nach Shakespeare nun mit einer großartigen Sängerbesetzung, faszinierenden Klängen und in einer intensiven Inszenierung in die Höhepunkte der Salzburger Festspielsaison ein. Gerald Finley begibt sich voll und ganz in die Rolle des alternden Königs, Anna Prohaska ist die anrührende Cordelia, Partien, die bei der Uraufführung auf exemplarische Weise von Dietrich Fischer-Dieskau und seiner Gattin Julia Varady verkörpert worden waren.
Die außergewöhnliche Bühne der Salzburger Felsenreitschule nutzen der australische Regisseur Simon Stone, sein Bühnenbildner Bob Cousins, die Kostümbildnerin Mel Page in voller Breite aus. Den Boden bedeckt im ersten Teil eine üppige bestückte Blumenwiese, im zweiten Teil ist die Bühne nackt, eine große Blutlache breitet sich auf der linken Seite aus. Es fließt viel Blut in diesem Stück. Umrahmt wird die Spielfläche von drei Tribünen: Nicht für zusätzliche Festspielbesucher sind sie aufgebaut, sondern für Statisten in Abendgarderobe.
Das Drama um Lear, der in Reimanns Oper keinen Königstitel mehr hat, ist also öffentlich: Er verteilt sein Reich unter den drei Töchtern, lässt sich von den Schmeicheleien der älteren (Goneril und Regan) täuschen und wird gedemütigt, während er die jüngste und treueste, Cordelia, verstößt. Wahnsinnig geworden, irrt er über die Heide und wird schließlich von Cordelia wieder aufgenommen. Dazu gibt es die Parallelhandlung um den treuen Grafen Gloster, der ebenfalls von einem seiner Söhne verraten wird. Regisseur Simon Stone und sein Team erzählen die Geschichte in heutigen Kostümen. Verrat, Missgunst, Heuchelei, Brutalität, Wahnsinn sind ja bekanntermaßen nicht zeitgebunden. Vermutlich für diese Sichtweise musste der Regisseur in der ansonsten umjubelten Produktion einige Buhrufe einstecken.
Höchste Herausforderungen
Zum ersten Auftritt von Lear im eleganten Abendanzug gibt es noch ein Bad in der wohlgesonnenen Menge, doch der Machtmensch wird demontiert. Großartig, wie Gerald Finley, der Kanadier mit der reichen Erfahrung in den großen Mozartpartien ebenso wie in der zeitgenössischen Oper und im Liedgesang, sich diesen hohen stimmlichen und darstellerischen Herausforderungen stellt. In der großen Sturmszene lehnt er sich verzweifelt auf, sein Abgleiten in den Wahnsinn, Todessehnsucht und Tod zeichnet er mit hoher Energie und einer Fülle an Farben nach. Evelyn Herlitzius und Gun-Brit Barkmin verkörpern glanzvoll die machtgierigen, stets konkurrierenden Töchter Goneril und Regan, die Reimann so treffend charakterisiert hat. Anna Prohaska überzeugt als sanftmütige, herzensgute Cordelia mit Wärme, Leuchtkraft, anrührendem Spiel und Textverständlichkeit auch in höchsten Lagen. Eine stimmlich herausragende Partie hat Aribert Reimann mit Edgar, dem Sohn Glosters, geschaffen: Nachdem ihn sein machthungriger Bruder Edmund (Charles Workman mit intensiver Rollengestaltung) ausgebootet hat, gibt er sich als wahnsinniger „armer Tom“, der in einer armseligen Hütte lebt. Die Stimme des Kontratenors Kai Wessel tönt in langen Melismen und verzweifelten Klagen wie nicht von dieser Welt. Auch die übrigen Rollen überzeugen ohne Ausnahme.
In Schlagzeuggewittern
Die großartige Instrumentationsund Kompositionskunst von Aribert Reimann wird von den Wiener Philharmonikern mit ihren allein 48 Streichern, den vielfach geteilten und in den Registern aufgefächerten Holz- und Blechbläsern und der auf der Seitenempore extra postierten Batterie von Schlagwerkern auf beeindruckende Weise offengelegt. Mit großer Klarheit fächert Franz Welser-Möst die Klangschichtungen der Streichercluster auf, modelliert die gewaltigen Explosionen und Schlagzeuggewitter, findet aber ebenso im Schlussteil, wenn Lear und Cordelia in ein klinisch weißes, diffuses Zwischenreich eingehen, wunderbar zerbrechliche und transparente Töne. Großer Jubel für alle Mitwirkenden und den mittlerweile 81-jährigen Komponisten.
Weitere Aufführungen am 23., 26., und 29. August, www.salzburgfestival.at