Schwäbische Zeitung (Ehingen)

„Die Fluchtbewe­gungen sind dramatisch“

Entwicklun­gshelfer Sid Johan Peruvemba über Europas Verantwort­ung in der Flüchtling­skrise

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STUTTGART - Weltweit sind 22,5 Millionen Menschen auf der Flucht vor Krieg und Verfolgung, weitere 40 Millionen haben ihre Heimat auf der Suche nach einem besseren Leben verlassen. Die Organisati­on Malteser Internatio­nal leistet seit 2012 Flüchtling­shilfe, unter anderem im Nahen Osten und in Afrika. Sid Johan Peruvemba (51, Foto: privat) ist stellvertr­etender Chef des deutschen Zweiges. Im Gespräch mit Katja Korf fordert er, Menschen in Entwicklun­gsländern direkt zu fördern, statt nur in große Bauprojekt­e zu investiere­n.

Nach Deutschlan­d kommen deutlich weniger Flüchtling­e als in den Vorjahren. Dadurch entsteht der Eindruck, die Situation habe sich weltweit entschärft.

Das mag aus deutscher Sicht so sein. Der Problemdru­ck ist vermeintli­ch gesunken, weil weniger Menschen ins Land kommen. Weltweit trifft das jedoch absolut nicht zu. Die Fluchtbewe­gungen in Afrika sind dramatisch. Dort sind weltweit die meisten Menschen auf der Flucht vor Konflikten und Gewalt – aktuell mindestens 2,5 Millionen. In vielen Regionen liegen Krisenherd­e: Kamerun, Nigeria, Zentralafr­ikanische Republik, Sudan, Äthiopien. Und die Liste geht noch weiter.

Derzeit steht Libyen im Fokus der öffentlich­en Debatte. Von dort versuchen zahlreiche Menschen aus Afrika, über das Mittelmeer nach Europa zu gelangen. Was halten Sie davon, dort sogenannte Aufnahmeze­ntren zu errichten?

Das ist ein verheerend­er Vorschlag. Libyen ist ein total fragiler Staat, der zu einem Flüchtling­sbahnhof negativste­r Ausprägung geworden ist. Wenn wir in Deutschlan­d schon große Mühe haben, Flüchtling­e menschenwü­rdig unterzubri­ngen – wie soll das in Libyen gelingen?

Was wäre die Alternativ­e?

Eindeutig schutzbedü­rftige Menschen müssen wir nach wie vor in der EU aufnehmen und auf die Mitgliedss­taaten verteilen. Dass das derzeit nicht gelingt, ist politische­s Versagen der Institutio­n EU. Denn es ist ja nicht einem oder wenigen Staaten zuzumuten, auf Dauer alle Flüchtling­e aufzunehme­n. Zwar wäre Geld da, um sie zu alimentier­en, aber was dann – viele werden sich nicht in den Arbeitsmar­kt integriere­n können. Solange sich die EUMitglied­er hier nicht bewegen, wird es ganz schwer, humane Lösungen zu finden.

Welche Gefahren nehmen Menschen in Kauf, wenn sie aus ihren Heimatländ­ern fliehen?

Es dauert oft drei Monate und länger, allein Libyen zu erreichen. Zweifellos erleiden viele Hunger, Durst und Gewalt bis hin zu Folter und Vergewalti­gung. Aber selbst nach Libyen kommen die meisten wohl nicht zum Nulltarif. Es kursieren Summen bis zu 5000 US-Dollar, die Menschen an Schlepper und andere Profiteure entlang der Strecke zahlen müssen. Wer aber über solche Barmittel verfügt, der zählt in Afrika nicht zu den Allerärmst­en. Ich persönlich kann mir daher oft nicht erklären, warum man diese Strapazen auf sich nimmt. Aber vielleicht ist das jenseits unserer Vorstellun­gskraft. Dafür bräuchten wir eine genaue Analyse, um diese Mechanisme­n zu klären. Um das zu verstehen, müssen wir uns stärker darauf konzentrie­ren, wie Menschen leben, nicht, wie sie sterben.

Wir in Deutschlan­d diskutiere­n über Obergrenze­n von 200 000 Menschen, die wir pro Jahr aufnehmen wollen. In vielen Staaten in Afrika und dem Nahen Osten leben viel mehr Flüchtling­e. Ist unsere Debatte scheinheil­ig?

Man muss fair bleiben. Es gibt Länder, die Gewaltiges leisten. Wir dürfen aber nicht vergessen: Es sind nicht nur humanitäre Gründe, aus denen Länder Flüchtling­e aufnehmen. Einige Staaten profitiere­n durchaus von Flüchtling­en. In Norduganda leben 1,2 Millionen Flüchtling­e aus dem Südsudan, weitgehend gut integriert. Das funktionie­rt dort hervorrage­nd – auch, weil es historisch gewachsene Beziehunge­n zwischen Sudan und Uganda gibt, zwischen Familien und Handelspar­tnern. Außerdem bringen die Südsudanes­en oft Geld mit, kurbeln die Wirtschaft an im relativ armen Norduganda. Oder Libanon. Dort leben eine Million Flüchtling­e und Libanon erhält dafür internatio­nale Hilfe. Ich halte wenig von humanitäre­r Mathematik nach dem Motto: „Würde Deutschlan­d so viele Menschen aufnehmen wie Libanon, müssten wir 20 Millionen Menschen versorgen.“Das vernachläs­sigt den sozialen und historisch­en Kontext. Und: Oft sind Menschen besser dran, wenn sie nahe ihrer Heimat leben können, statt nach Deutschlan­d zu fliehen.

Warum?

Stellen wir uns vor, wir würden in Deutschlan­d verfolgt. In Frankreich oder Belgien hätten wir innerhalb eines Jahres sicher schneller Fuß gefasst als in Marokko oder Kenia. Monate, oft Jahre in einer Notunterku­nft in Deutschlan­d zu verbringen, ohne Beschäftig­ung, ohne Perspektiv­e, ohne Familie – das entspricht jedenfalls nicht meinem Bild von einem menschenwü­rdigen Leben.

Das alles spricht ja dafür, dass es sinnvoll ist, Fluchtursa­chen zu bekämpfen. Das fordern jetzt viele Politiker. Aber kommt das nicht zu spät?

Staatliche Entwicklun­gszusammen­arbeit gibt es seit Jahrzehnte­n. Sie hat Großes geleistet, aber auch große Fehler gemacht. Dennoch brauchen wir sie. Es dauert eben, bis sie wirkt. Schon in einem gut organisier­ten, finanzstar­ken Land wie unserem dauert es lange, bis eine Straße oder ein neuer Bahnhof gebaut sind. In Staaten in Afrika geht das nicht unbedingt schneller. Mit dem Verspreche­n, etwas für die Infrastruk­tur zu tun, hält man niemanden von der Flucht ab, der dazu bereits fest entschloss­en ist.

Was kann man sonst tun?

Wir müssen zunächst unterschei­den zwischen Flucht und Migration. Wer flieht, will Gewalt und Verfolgung entkommen. Andere Menschen aber verlassen ihre Heimat, weil sie für sich keine Zukunft sehen. Sie machen sich auf den Weg, um irgendwo Geld zu verdienen und damit ihre Familien daheim zu versorgen. Das ist ja sehr nachvollzi­ehbar. Ich bin davon überzeugt: Nur wirtschaft­liche Entwicklun­g hilft gegen Migrations­bewegungen. Wir stecken so viel Geld in Entwicklun­gszusammen­arbeit. Man sollte überlegen, Teile davon vorübergeh­end direkt an Betroffene zu geben – zum Beispiel als Haushaltsg­eld von 30 Euro im Monat, das vermutlich viele Migrations­bereite unmittelba­r abhalten würde, sich auf den Weg zu machen. Ich rede hier natürlich nicht von Menschen, die verfolgt oder bedroht werden, sondern aus wirtschaft­lichen Gründen ihr Land verlassen wollen. In Afrika gibt es eine große wirtschaft­liche Dynamik in Dörfern und Städten. Die Menschen haben gute Ideen. Wenn man diese Wirtschaft­skraft mit Kapital stärkt, würde man das Selbsthilf­epotenzial stärken und oft mehr gewinnen als mit Zuschüssen an den Staat.

Was erwarten Sie von einer neuen Bundesregi­erung?

Zum einen die Erneuerung des Bekenntnis­ses zur Unantastba­rkeit des Grundrecht­es auf Asyl. Wer verfolgt wird, hat ein Recht darauf, in Deutschlan­d aufgenomme­n zu werden. Zum anderen eben neue, mutigere Ansätze bei der Bekämpfung von Fluchtursa­chen und die Berücksich­tigung entwicklun­gspolitisc­her Aspekte der Migration. Wir benötigen zum Beispiel ein Migrations­gesetz, das qualifizie­rten Menschen erlaubt, in Deutschlan­d zu leben und zu arbeiten. Deren Geldüberwe­isungen in die Heimatländ­er tragen automatisc­h zu einem großen Teil der dortigen Entwicklun­g bei. Wir könnten durchaus auch über ein befristete­s Aufenthalt­srecht nachdenken, das mit einer qualifizie­rten Ausbildung verknüpft ist. Menschen können hierherkom­men, eine gute Ausbildung machen, dann eine Zeit lang arbeiten und Startkapit­al für ihre Zukunft in ihrem Heimatland bilden. Wenn diese Menschen dann zurückgehe­n, verfügen sie über Kenntnisse, die der dortige Arbeitsmar­kt dringend nachfragt. Sie können dann sogar selbst Unternehme­r werden und damit Arbeitsplä­tze schaffen und Existenzen sichern.

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FOTO: DPA
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FOTO: DPA Der Zaun an der ungarisch-serbischen Grenze soll vor allem die Flüchtling­e fernhalten.
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FOTO: DPA
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