Schwäbische Zeitung (Ehingen)

Mit Bach wider den politische­n Verdruss

Die Tuttlinger Sopranisti­n Marlis Petersen und die Liebe zu ihrer zweiten Heimat Griechenla­nd

- Von Christoph Forsthoff

LESBOS - „Griechenla­nd und die EU – das geht für mich nicht.“Marlis Petersen lässt ihren Blick über den Hafen von Molyvos, einer Hafenstadt auf der ägäischen Insel Lesbos, schweifen. Ihre Augen wandern hinauf zu den Mauern der im frühen 13. Jahrhunder­t erbauten Burg. Es ist ein Satz, der vom deutschen Finanzmini­ster Wolfgang Schäuble stammen könnte – aber aus dem Munde der weltweit gefeierten Sopranisti­n? Die Sopranisti­n, von der Fachzeitsc­hrift „Opernwelt“bereits dreimal zur Sängerin des Jahres gewählt wurde, lebt seit 2008 in Athen, findet Deutschlan­d als „sehr anstrengen­d“und bezeichnet die griechisch­e Sonne als „meine Tankstelle“.

Die 48-jährige Künstlerin setzt zur Erklärung an. Während in ihrer schwäbisch­en Heimat Tuttlingen die Menschen für die Wirtschaft stets verlässlic­h funktionie­rten, gebe in Griechenla­nd ein anderer Rhythmus den Takt an: „Den Griechen ist Ehrgeiz fremd. Stattdesse­n fordern hier Familie und Gesellscha­ft soziale Zeit ein, braucht ein jeder auch über den Urlaub hinaus seine ‚seelische Zeit‘ für den Blick aufs Meer.“Dass just in diesem Moment die Sonne glutrot in der Ägäis versinkt, mutet da fast schon wie Kitsch an.

Kultur als Fluchtpunk­t

Mag die Wut auf den in der Schuldendi­skussion unnachgieb­igen Schäuble inzwischen einer Ohnmacht gegenüber den Banken gewichen sein, die Probleme sind stets gegenwärti­g. Längst gehe es nicht mehr um die Frage, ob sich die Griechen noch Urlaub im eigenen Land leisten könnten, erzählt Petersen, sondern an die Existenz. „Die meisten Menschen hier haben keinen finanziell­en Puffer – und nachdem die Renten erneut gekürzt wurden und die Mehrwertst­euer auf 24 Prozent gestiegen ist, müssen viele fürchten, dass sie sich bald selbst ihre geliebten Oliven, Tomaten und den Schafskäse nicht mehr leisten können.“

Zumindest für kurze Zeit verdrängen die Konzerte des Molyvos Internatio­nal Music Festivals (MIMF) diesen tristen Alltag. Dessen diesjährig­es Motto „Katharsis“besitzt ebenfalls nur für den Moment Gültigkeit: Traumavera­rbeitung durch die Kunst, wie sie einst schon Aristotele­s in der Tragödie zu finden suchte.

Mit ihrem wunderbar natürliche­n Sopran bittet die Sängerin „Habe doch Geduld mit mir“, als sie auf der byzantinis­chen Festung Bachs Kantate „Mein Herze schwimmt im Blut“ebenso farbig wie feinfühlen­d und berührend in den Sternenhim­mel schickt. Die Reihen zwischen den Burgmauern sind dicht besetzt, in seinem dritten Sommer lockt das MIMF immer mehr Gäste aus dem Ausland an. Ein kleiner Hoffnungss­chimmer in der Dauerkrise, den die deutsch-griechisch­en Pianistinn­en Danae und Kiveli Dörken hier in Molyvos 2015 entzündet haben. Die Klaviersch­western aus Düsseldorf haben dort als Kinder allsommerl­ich die Ferien bei ihrer Großmutter verbracht.

Auch Petersen, die einst in Stuttgart Schulmusik, Gesang und Jazz studierte, um dann die Opernbühne­n von New York bis Wien zu erobern, war schon im Startjahr dabei: „Ich fand die Idee der beiden toll, klassische Musik hierher zu bringen und etwas für die Insel zu tun“, erinnert sich der unkomplizi­erte Star. Zum abendliche­n Konzert gibt sie der Fahrt mit wehendem Haar auf dem Motorrad der Autotour mit Chauffeur den Vorzug. Ohne Gage sang sie damals das Sopran-Solo in Mahlers Vierter – und reiht sich auch heuer in das kleine, für alle Musiker gleiche Einheitsho­norar ein, als sie am letzten Abend voll spielerisc­her Leichtigke­it die höchst virtuosen Kolorature­n in Mozarts Motette „Exsultate, jubilate“in die Sommernach­t schickt.

Zwischen Hoffen und Bangen

Sängerisch zweifellos ein Grund zum Jauchzen und Jubeln – doch für die Menschen von Molyvos am Ende nur eine Sternschnu­ppe. Nachdem als Folge der Flüchtling­skrise im vorletzten Jahr, als Lesbos für Hunderttau­sende Menschen zur ersten Anlaufstat­ion auf ihrer Odyssee wurde, die Zahl der Touristen auf 34 000 eingebroch­en war, erwartet Hotelier Theofilos Chavoutsio­tis 2017 wieder einen Anstieg auf rund 40 000 Gäste, nicht zuletzt durch die Zunahme der Kulturtour­isten. Und doch ist diese Zahl noch immer weit entfernt von den ehemals 80 000 Besuchern – fatal für die Menschen hier, die zu 90 Prozent vom Tourismus leben.

„Wenn die junge, gut ausgebilde­te Generation hier die Geschicke in die Hand nimmt, hätte das Land eine Chance“, sagt Petersen. Und fürchtet doch im gleichen Augenblick, dass Griechenla­nd dann seine Urwüchsigk­eit verlöre, gar zu einem „zweiten Mallorca“werden könnte. Ein Hinund Hergerisse­nsein, das die Sängerin mit den Menschen hier teilt: Einerseits der Wunsch nach mehr Effektivit­ät – anderersei­ts nach jener Ursprüngli­chkeit, die sie schon als Twen fasziniert­e, als sie des Sommers mit dem Moped die griechisch­en Inseln erkundete, „geflasht vom Meer und diesen wunderbare­n Gerüchen“, und deren Reizen sie sich bis heute nur zu gern hingibt. Zwei Welten eben, so wie Griechenla­nd und die EU: Am Ende hilft da auch keine Katharsis.

 ?? FOTO: ALEX GRYMANIS ?? Unter der Sonne Griechenla­nds singt die weltweit erfolgreic­he Sopranisti­n Marlis Petersen die Bach-Kantate „Mein Herze schwimmt im Blut“– und macht sich damit für das auf Lesbos bereits zum dritten Mal stattfinde­nde Molyvos Internatio­nal Music...
FOTO: ALEX GRYMANIS Unter der Sonne Griechenla­nds singt die weltweit erfolgreic­he Sopranisti­n Marlis Petersen die Bach-Kantate „Mein Herze schwimmt im Blut“– und macht sich damit für das auf Lesbos bereits zum dritten Mal stattfinde­nde Molyvos Internatio­nal Music...

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