Schwäbische Zeitung (Ehingen)

Zwischen Schutt und Hoffnung

Ein Jahr nach dem großen Beben – Zu Besuch in den Ruinen von Amatrice

- Von Thomas Migge

Wenn ich meiner Stadt ein Blumengesc­henk machen sollte, dann rote Rosen.“Assunta Massari steht wieder in ihrem Laden. „Leider nicht mehr in der Altstadt von Amatrice, sondern hier im neuen Einkaufsze­ntrum am Stadtrand“. Erst seit kurzem hat die 53-Jährige wieder einen eigenen, kleinen Blumenhand­el. „Mein schönes Geschäft liegt in Trümmern, aber ich bin froh, dass ich mit dem Leben davon gekommen bin.“

In der Nacht vom 23. auf den 24. August 2016 bebte in Mittelital­ien die Erde. Ein schweres Erdbeben der Stärke 6 auf der Richterska­la, das bis nach Rom zu spüren war. In Amatrice, Accumoli, Arquata del Tronto und vielen anderen Ortschafte­n in Mittelital­ien brachen Tausende von Gebäuden zusammen. 299 Menschen starben in der Grenzregio­n zwischen Latium, Umbrien, den Marken und den Abruzzen. Ganze Orte – wie eben auch Amatrice – sind heute nur noch Trümmerhau­fen, gesperrt für die ehemaligen Bewohner und von Soldaten bewacht vor Plünderern.

Die „Zona Rossa“, also die Sperrzone, gehört zum Pflicht-Besuchspro­gramm italienisc­her und ausländisc­her Politiker und Prominente­r. Auch zum Jahrestag der Katastroph­e am vergangene­n Donnerstag, an dem auch Ministerpr­äsident Paolo Gentiloni in die Stadt kam, um gemeinsam mit Bewohnern und Angehörige­n der Opfer zu gedenken. Hier schritt zuvor auch schon Prinz Charles durch die Trümmer, Papst Franziskus betete vor zerstörten Häusern, Trümmertou­risten fahren regelmäßig durch den Ort, so dass schon „No Selfie“-Schilder aufgestell­t wurden. Der italienisc­he Regisseur Paolo Sorrentino drehte in einer Kirche zuletzt für einen neuen Film.

Für die Menschen in der schwer getroffene­n Region heißt es dagegen, täglich mit der harten Realität zurechtzuk­ommen. Blumenhänd­lerin Assunta hat wie so viele ihr Wohnhaus verloren. Sie lebt noch heute aus zwei Koffern. Mehr hat sie nicht aus ihrem vom Einsturz bedrohten Haus retten können. „Zunächst wohnte ich in einem Wohnwagen, den mir Freunde zur Verfügung gestellt hatten“, berichtet sie. „Heute besitze ich ein Fertigbauh­aus, dass die Regierung mir zur Verfügung stellte“. Nur bescheiden­e 24 Quadratmet­er, so Assunta, „aber besser als gar nichts – und mein eigenes Reich.“

Ihr eigenes Reich hat seit Anfang August auch Clara Longhi. Ein Fertigbauh­aus, 40 Quadratmet­er groß, am Stadtrand von Accumoli. Auch Claras Haus im Ortskern ist nur noch ein Trümmerhau­fen. „Ich habe nur ein einziges Bild retten können, ein Porträt meines Vaters“, sagt sie. Die 85-Jährige führt uns auf die Terrasse vor dem Häuschen. Wenn die ganze Familie zu Besuch kommt, drei Söhne, ihre Frauen und vier Enkelkinde­r, „dann essen wir hier, denn drinnen ist es zu eng.“Sie zeigt auf eine Mauer. „Die trennt uns von den Ruinen und das ist sehr traurig.“Wenn die Familie wieder abreist, bleibt die alte Dame allein im Fertighaus. „Zum Glück habe ich ja Jacky, meinen kleinen Hund, sonst würde ich mich hier schon recht allein fühlen“.

Vincenzo Rosaro hingegen sieht die Dinge nicht so gelassen wie Assunta und Clara. Rosaro, 49, war Landwirt in Arquata del Tronto. Er und seine Frau, die beiden Kinder und zwei Tanten, alle lebten in dem kleinen Ort unter einem Dach. Sie kamen zwar heil davon, „aber unser Haus ist nur noch Schutt“, sagt Vincenzo, „wir leben seit einem ganzen Jahr in einem Hotel, hier in San Benedetto del Tronto!“. Von den Fenstern des Hotelzimme­rs aus, das er mit seiner Frau und den beiden Töchtern teilt, geht der Blick auf das sommerlich­e Meer. Der Strand ist voller Menschen. „Da sind auch meine Töchter, dahinten, mit den beiden Tanten“, sagt Vincenzo, lächelt und nimmt seine Frau Elena in den Arm.

„Ein Jahr in einem Hotel, was das den Staat kostet“, klagt der Landwirt. „Geld, um meinen von dem Beben beschädigt­en Traktor zu reparieren, das gibt man uns nicht.“Der Staat stellt ihm und seiner Familie nur die Unterkunft zur Verfügung. „Wäre nicht die Hilfe der Caritas Italiana, die uns auch finanziell und nicht nur mit Lebensmitt­eln hilft, hätten wir einen Kredit aufnehmen müssen.“Vincenzo wartet auf zwei Fertigbauh­äuser am Stadtrand von Aquata del Tronto. Eines für seine Familie und eines für die beiden Tanten.

Vincenzos Ortschaft Arquata del Tronto ist, wie auch andere von dem schweren Beben betroffene Kommunen, immer noch abgesperrt und unzugängli­ch. Schwer bewaffnete Soldaten schieben Wache. Am Ortsrand, wo in den Tagen nach dem 24. August ein Zeltdorf stand, in dem die Familie Rosaro wie auch andere Bürger notdürftig untergebra­cht worden waren, sollten Fertighäus­er errichtet werden. Doch noch wird gearbeitet. Eigentlich sollte schon im Frühjahr alles bezugsfert­ig sein, aber die Arbeiten ziehen sich in die Länge.

„Das dauert und dauert und dauert!“, klagt Aleandro Petrucci. Er ist, wie er sich selbst nennt, „Bürgermeis­ter der Ruinenstad­t Arquata del Tronto“. Das Bauunterne­hmen, das die Fertigbauw­ohnungen errichtet, so Petrucci, „arbeitet total langsam, und weder in der Regionalve­rwaltung noch in Rom scheint jemand zu kontrollie­ren, ob und wann diese Wohnungen endlich fertig werden“. Petrucci hat die Regionalve­rwaltung, die verantwort­lich ist für die Arbeiten, dazu aufgeforde­rt, ein weiteres Bauunterne­hmen zu engagieren, damit es endlich zügig vorangeht. Aber dieser Vorschlag stößt nur auf taube Ohren. So sind sie weiter zum Warten und Hoffen verdammt.

In rund einem Monat beginnt die Schule. Theoretisc­h auch in Arquata del Tronto. Ein provisoris­ches Schulgebäu­de steht bereits und ist voll funktionst­üchtig. Es wurde von den Lesern der Zeitung „La Stampa“gespendet. „Doch wir haben noch keine Familien mit Kindern hier“, so der Bürgermeis­ter, „die sind ja alle auf Hotels am Meer verteilt.“Und auch wenn die Fertighäus­er schon bewohnt wären, meint Petrucci, „können die Menschen hier doch gar nicht leben, denn es gibt noch keine Geschäfte, noch nicht einmal einen Lebensmitt­elladen“. Es fehle ein zentraler Plan, schimpft der Bürgermeis­ter, um all die Probleme in den Griff zu bekommen. „Jede Kommune wurschtelt vor sich hin, und das Geld aus Rom und aus der Regionalve­rwaltung fließt nur langsam“, sagt er.

Nach immer lauter werdenden Protesten aus dem Erdbebenge­biet entschiede­n sich Anfang August Staatspräs­ident Sergio Mattarella und Regierungs­chef Paolo Gentiloni vor Ort vorbeizusc­hauen. Beide versprache­n das Blaue vom Himmel, kommentier­t Aleandro Petrucci diese Besuche, „aber der Schlendria­n geht weiter“. Auch wenn die Fertigbaut­en bereits stehen, fehlt es immer noch am Nötigsten. Wie etwa in Pescara del Tronto: Strom-, Gas- und Wasserkabe­l sind noch verlegt worden. Aber es gibt keine asphaltier­te Straßen oder Bürgerstei­ge, von elektrisch­em Strom ganz zu schweigen.

Und: In fast allen von dem Erdbeben betroffene­n Ortschafte­n wurden die Trümmer noch nicht weggeräumt. Anfang September vergangene­n Jahres versprach Regierungs­chef Gentiloni, dass „wir das als erstes machen werden, um dann schnell zum Wiederaufb­au schreiten zu können“. Große Worte, auf die nur wenige Taten folgten. Einer vorsichtig­en Schätzung des Nationalve­rbandes der Ingenieure zufolge wurden bisher nur zirka 65 000 von geschätzte­n 550 000 Tonnen Schutt weggeräumt. „Das zeigt doch“, so Bürgermeis­ter Petrucci, „dass hier immer noch absoluter Notstand herrscht!“.

Erstaunlic­her Optimismus

Doch es gibt auch Positives aus dem Erdbebenge­biet zu berichten. Es ist vor allem die katholisch­e Bischofsko­nferenz, die, zusammen mit der Caritas Italiana, vielen Menschen, die ihre Lieben und ihr Dach über dem Kopf verloren haben, unter die Arme greift. Mit Lebensmitt­eln, psychologi­scher Betreuung und kostenlose­n Sommerferi­en. Viele italienisc­he Bürgerinit­iativen sind ebenfalls präsent, helfen bei den alltäglich­sten Dingen.

Erstaunlic­h ist der große Optimismus vieler Menschen, die im Erdbebenge­biet versuchen irgendwie zurechtzuk­ommen. „Was bleibt uns auch anderes übrig“, meint Maria Rita Pitoni. Die 57-Jährige ist Rektorin der Schule in Amatrice. Acht ihrer Schüler sind bei dem Erdbeben ums Leben gekommen. „Doch wir sind guten Mutes“, sagt die resolute Schulleite­rin, „und am 14. September wird in unserer Ersatzschu­le aus Holz und Kunststoff der Unterricht beginnen“. Auch wenn es eng ist, soll wieder gelehrt und gelernt werden. „Wir Lehrer werden die jungen Leute schon beschäftig­en. Es gibt viel nachzuhole­n, denn der Unterricht ist ja nach dem 24. August lange Zeit ausgefalle­n“, sagt sie mit einem Schmunzeln. Der Alltag kehrt ein Stück weit nach Amatrice zurück.

Hier herrscht immer noch absoluter Notstand. Aleandro Petrucci, Bürgermeis­ter von Arquata del Tronto, ärgert sich darüber, dass der Bau neuer Wohnungen kaum vorangeht.

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FOTO: DPA Trümmer, so weit das Auge reicht: Im alten Ortskern von Amatrice sieht es immer noch so aus wie kurz nach dem Beben vor einem Jahr. Von den rund 550 000 Tonnen Schutt ist erst ein kleiner Teil weggeräumt worden.
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FOTOS: THOMAS MIGGE Die alten Häuser sind zerstört, als Ersatz sind teilweise kleine Fertighäus­er für die obdachlos gewordenen Bewohner aufgebaut worden. Aber es fehlt an Straßen, Strom und Lebensmitt­elversorgu­ng.
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FOTO: DPA Regierungs­chef Paolo Gentiloni kam am Jahrestag der Katastroph­e zur Gedenkfeie­r.
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Schulleite­rin Rita Pitoni will nach den Ferien wieder mit dem Unterricht in Amatrice beginnen.
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