„Einen Kollaps wird es nicht geben
Versicherungswissenschaftler Hans-Joachim Zwiesler rät zur eigenen Vorsorge
RAVENSBURG - Wer im Alter einen gewissen Standard bei der Gesundheitsversorgung haben möchte, muss privat vorsorgen. Das sagte der Ulmer Mathematiker und Versicherungswissenschaftler Hans-Joachim Zwiesler im Gespräch mit Daniel Hadrys. In Zukunft werde man über die Notwendigkeit bestimmter medizinischer Leistungen diskutieren, denn der demografische Wandel wird laut Zwiesler für Einbußen in den Sozialversicherungssystemen sorgen.
Herr Professor Zwiesler, vor welchen Herausforderungen stehen die gesetzlichen und privaten Krankenversicherungen?
Das Hauptproblem ist die demografische Veränderung der Gesellschaft. Sie betrifft alle Sozialversicherungssysteme, die sich auf einen Generationenausgleich beziehen. Die 20- bis 65-Jährigen erbringen Leistungen für die ältere Rentnergeneration. Das gilt für die Renten-, Kranken- und Pflegeversicherung. Die gravierenden Auswirkungen macht man am sogenannten Altersquotienten fest. Er besagt, wie viele Arbeitnehmer die Sozialleistungen eines Rentners bezahlen. Vor 20 Jahren lag dieser bei dem Faktor vier zu eins. Das heißt, vier Menschen der Altersgruppe 20 bis 65 Jahre haben einen Rentner finanziert. In etwa zehn Jahren wird sich dieser auf zwei zu eins verringern. In der Krankenund Pflegeversicherung ist das dramatischer als im Rentensystem, weil eine gestiegene Lebenserwartung auch mit höheren Gesundheitskosten einhergeht.
Droht deswegen irgendwann der Kollaps der gesetzlichen Krankenversicherung?
Einen Kollaps wird es nicht geben. Der demografische Wandel wird uns aber an Grenzen bringen. Im Sozialstaat wird es zwar immer ein Mindestmaß an Absicherung für die grundsätzlichen menschlichen Bedürfnisse geben. Aber wir werden darüber reden müssen, welche Leistungen medizinisch notwendig sind und welche nicht. Vor ein paar Jahren gab es die Diskussion darüber, bis zu welchem Lebensalter Hüftoperationen noch sinnvoll und angemessen sind. Über solche Fragen werden wir uns in Zukunft Gedanken machen müssen.
Wie könnte man dieses Problem lösen, wenn das bisherige System von gesetzlicher und privater Krankenversicherung Bestand haben soll?
Rein rechnerisch ist das ganz einfach: Jeder Arbeitnehmer zahlt einfach doppelt so viel in die Systeme ein. Wir können den jungen Menschen aber nicht alles aufbürden. In den kommenden zehn bis 15 Jahren werden wir daher kontinuierlich über eine gerechte Verteilung der Lasten zwischen den Generationen diskutieren. Ein Ansatz ist die Erhöhung des Rentenalters. Da wir länger leben und länger aktiv sind, ist dies eine unabdingbare Konsequenz. Das Problem der demografischen Veränderung kann man allerdings nur mit Umverteilungsmechanismen nicht wirklich lösen. Die Frage, wo das Geld herkommt, wird sich immer stellen. Das System können sie nur retten, indem sie Teile dieser Finanzierung vom Einzelnen durch eigene Vorsorge erbringen lassen. Es gibt keine Alternative dazu. Wir müssen uns klarmachen: Wenn jemand einen gewissen Standard bei der Versorgung im Alter haben möchte, muss er eine gewisse Eigenvorsorge betreiben.
Inwiefern unterscheiden sich beide Krankenversicherungen noch?
Die gesetzlichen Krankenversicherungen sind für das Gros der Bevölkerung gedacht. Sie funktionieren nach dem Umlageverfahren. Innerhalb eines Jahres versuchen sie, die Ausgaben durch die Einnahmen abzudecken. Rücklagen werden dort so gut wie keine aufgebaut. In der privaten Krankenversicherung bezahlt jeder eine Prämie, die sich aus den geschätzten Gesundheitskosten im Laufe seines Lebens berechnet. Leistungen in den gesetzlichen Krankenversicherungen sind sehr einheitlich geregelt. Private Krankenversiche- rer sind da freier. Das kann dazu führen, dass sie höhere Leistungen an die Ärzte bezahlen, die dann allerdings von ihren Versicherten über die Prämie finanziert werden. Auch das Abrechnungssystem unterscheidet sich: In der gesetzlichen Krankenkasse rechnet der Arzt mit der Krankenkasse ab, ohne dass der Versicherte etwas davon erfährt.
Haben private Krankenversicherungen Ihrer Meinung nach einen Vorteil gegenüber den gesetzlichen?
Leute, die privat krankenversichert sind, sparen für ihre Zukunft an. Themen wie Alterung sind in der privaten Krankenversicherung kein Problem. Während der Zeit, in der die Privatversicherten berufstätig sind, sparen sie eine Rückstellung für das Alter an. Dieses System ist wesentlich stabiler im Hinblick auf künftige Belastungen, als es gesetzliche Systeme sind.
Es gibt Sprechstunden nur für Privatpatienten und sogar Ärzte, die nur noch Privatpatienten aufnehmen. Gibt es durch das Nebeneinander von gesetzlichen und privaten Krankenversicherungen die Zwei-Klassen-Medizin?
Klar ist: Wenn Ärzte für einen Patienten von der einen Krankenkasse mehr bekommen als für einen anderen, hat das eine lenkende Wirkung. Das sagt einem der gesunde Menschenverstand.
Ist diese Tatsache nicht ungerecht?
Tatsache ist: Die Privatversicherten zahlen für diese Leistungen auch mehr. Das System hat sich über viele Jahrzehnte etabliert. Dadurch gewährleisten sie auch eine gewisse finanzielle Stabilität für den Gesundheitssektor. Wenn Sie von heute auf morgen die privaten Krankenversicherungen einfach abschaffen würden, würde es auch deutliche Gehaltseinbußen bei Ärzten oder Apotheken geben.
Bedeutet das im Umkehrschluss: Privatpatienten sichern eine flächendeckende medizinische Versorgung?
Ja, zweifelsohne.
Linke, SPD und Grüne fordern die Einführung einer sogenannten Bürgerversicherung, in die alle Arbeitnehmer, also auch Selbstständige und Beamte, einzahlen. Einige fordern gar die Abschaffung der privaten Krankenversicherung. Wäre das eine Alternative zum bisherigen System?
Das ist eine politische Frage. Die Abkehr von der privaten Krankenversicherung halte ich aber für eine unvernünftige Forderung. Das falsche Signal wäre: Der Staat richtet es für dich. Das wird in unserer Gesellschaft nicht funktionieren. Zwar könnte man bei der gesetzlichen Krankenversicherung auch Rücklagen ansparen. Ich kenne aber kein System staatlicher Vorsorge, bei dem der Aufbau von Reserven für die Zukunft funktioniert. Sobald Politiker Geld brauchen, werden sie es dort rausnehmen. Da würde ich dem Staat an dieser Stelle nicht trauen. Das ist nicht negativ gemeint. Politiker erfüllen eine hoch anspruchsvolle Aufgabe. Ich glaube, dass Politiker mit einer Wahlperiode von vier Jahren in Sachzwänge kommen, die sie dazu verleiten, solche Reserven artfremd zu verwenden.
Einige Politiker fordern zudem, die paritätische Finanzierung zwischen Arbeitnehmern und -gebern wieder einzuführen, sich die Krankenkassenbeiträge also zu teilen. Was würde Ihrer Meinung nach bei einem solchen Finanzierungsmodell passieren?
Tendenziell müssen sie davon ausgehen, dass in Zukunft die Gesundheitskosten und damit auch die Krankenkassenbeiträge steigen werden. Wenn der Arbeitgeber vor diesem Hintergrund die Hälfte bezahlt, steigen auch die Personalkosten. Wenn die wiederum steigen, müssen Unternehmen über wirtschaftliche Konsequenzen nachdenken. Das kann auch zur Diskussion über Deutschland als Wirtschaftsstandort führen.