Jodeln ist das neue Yoga
Holladihi-holladiho-hollareidulieu! – Der wortlose Gesang zwischen Brust- und Kopfstimme ist mehr als ein belächeltes Folklore-Relikt
Ein bisschen jodeln geht nicht. Man muss es ganz machen.
Jodellehrerin Hedwig Roth
Es sind und waren meistens die Exoten, die – wenn sie jodelten – die Aufmerksamkeit des modernen Menschen gewannen: Zu dieser Kategorie gehört selbstredend Evelyn Hamann, die im Loriot-Sketch vom Jodeldiplom („Da hab ich was in der Hand! Da hab ich was Eigenes!“) ganz im kehligen Urschrei dieser besonderen Form des menschlichen Geräusches aufgeht. Nicht weniger bemerkenswert ist der japanische Jodel-König Takeo Ischi, der besonders in der deutschen volkstümlichen Schlagerwelt mit seinem Gesang Erfolge feierte. Das Jodeln hat sich der in Tokio geborene Mann übrigens mittels Schallplatten eines bayerischen Vorbilds selbst beigebracht. Vielleicht lässt sich diese kleine Aufzählung mit Andrea Wittmann abschließen, die den Weltrekord im Dauerjodeln hält. Die Frau ist in der Lage, über mehr als 15 Stunden hinweg ununterbrochen Gejodeltes aus ihrer erstaunlichen Kehle zu entlassen.
Dem Wesen des Jodelns auf die Spur zu kommen – dafür sind die drei vorgenannten Beispiele natürlich ungeeignet, weil sie den textfreien Gesang ins Reich der absonderlichen Kuriositäten verbannt, wo er eigentlich nichts zu suchen hat. Denn das Jodeln ist eine uralte Kommunikationsmethode, die der Mensch schon solange ausübt, dass es über deren Ursprünge schon keine verlässlichen Informationen oder Aufzeichnungen mehr gibt. Fest steht nur, dass das Jodeln auf allen Kontinenten und in den meisten Kulturkreisen vertreten war und teilweise noch ist.
Eine der Hochburgen dieser speziellen Kunst ist die Schweiz, die alle drei Jahre das „Eidgenössische Jodlerfest“abhält – zuletzt im Frühsommer im Kanton Wallis, genauer gesagt in Brig. Bei den Dimensionen dieser Veranstaltung wird auch die Bedeutung des Jodelns deutlich, die es in den Alpen noch immer besitzt: An drei Tagen haben sich 150 000 Zuschauer die Darbietungen von 10 000 Jodlern, Fahnenschwingern und Alphornbläsern zu Gemüte geführt. Und das Jodeln ist während des Jodlerfestes tatsächlich allgegenwärtig: In der Tiefgarage schrillt es aus Parkbuchten. Auf den Hotelfluren dringt es kaum gedämpft aus den Zimmern. Im Frühstücksraum bricht es sich an den Wurst- und Käseplatten unverhofft Bahn. Die Schweizer meinen es ernst mit ihrem Jodlerfest. „Das hat bei uns nichts mit Folklore zu tun“, erklärt Friedrich Thuner aus Frauenfeld im Kanton St. Gallen und greift am Büffet nach der Streichwurst. „Es gehört zu unserem Leben.“Dabei gibt es sehr unterschiedliche Arten des Jodelns: Manchmal entlädt es sich blitzartig wie ein mit der Zunge geschlagener Peitschenknall. Dann wieder verbindet es sich vielstimmig zu einem hochmelodiösen Hörgenuss von der Bandbreite einer Opernarie.
Das Österreichische Musiklexikon definiert das Jodeln so: „Alternieren von Bruststimme und Falsett, in der Regel über Silben ohne Wortbedeutung.“Oder anders ausgedrückt: „Holladihi-holladiho-hollareidulieu!“
Das alpenländische Jodeln ist umrankt von vielen Mythen. Gesichert ist, dass das Jodeln über die Täler hinweg zum Einsatz kam, um einfache Informationen und Nachrichten zu übermitteln. Dabei haben sich – regional unterschiedliche – Codes entwickelt, die ähnlich wie bei Morsezeichen eigene Bedeutungen haben. Um beispielsweise Feueralarm auszulösen oder – wie im Islam der Muezzin, der übrigens auch jodelt – zum Gebet aufzurufen. Darüber hinaus gibt es Geschichten darüber, dass ein Jodler die Wilderer zu warnen hatte, wenn die legitimierten Jäger in Sichtweite kamen. Aber auch als Signal im Herdentrieb spielte das Jodeln eine wichtige Rolle. Nach und nach hat es sich dann ins Liedgut eingeschlichen, sodass es schließlich in die Volksmusik Eingang gefunden hat und dabei, wie viele Anhänger des ursprünglichen Jodelns kritisieren, vereinnahmt wurde.
Zurück in Brigs Gassen während des Eidgenössischen Jodlerfests: Dort sind die Schwestern Keiko Ito und Yuri Takei unterwegs. Die beiden Japanerinnen sind gerade auf dem Weg, um noch ein wenig für ihren späteren Auftritt zu proben. Wie auf Knopfdruck legen sie direkt los, mitten auf der Straße – zu aller Erstaunen im schönsten Schwyzerdütsch: „Wo dr Herrgott üsi Wält het gmacht, het er druf Blüemli gströit.“(Als der Herrgott unsere Welt geschaffen hat, hat er Blumen darüber gestreut.) Die staunenden Passanten applaudieren spontan, sodass sich die Schwestern ein bisschen verlegen verbeugen. Keiko Ito sagt: „Ich habe immer schon Jodler auf CD oder Kassette angehört. 2005 bin ich dann zum ersten Mal zum Jodlerfest gefahren.“Rund 10 000 Kilometer. Und da war es um die Dame geschehen. Sie hat kurzerhand Unterricht genommen, bald ihre Schwester mit dem Jodeln angesteckt und seither bei keinem der Jodlerfeste gefehlt. Es lässt sich kaum ahnen, wie schwierig es für die nicht deutsch sprechenden Japanerinnen gewesen sein muss, im Schweizer Dialekt trällern zu lernen.
Doch nicht allein die akustische Verständigung über weite Strecken, Schluchten und Täler hinweg, in Nordamerika, China, im Kaukasus oder Zentralafrika, ist Sinn und Zweck des Jodelns, es ist auch gesund und macht glücklich. Das jedenfalls schreibt die „Ärzte-Zeitung“im Jahr 2005, Jodeln sei sogar gesünder als Yoga. „Das haben Wissenschaftler der Universität Graz herausgefunden.“Demnach wirkt Jodeln entspannend, baut Stress ab und kräftig die Lungen.
Das sind auch für die Musikerin und professionell geschulte JodelLehrerin Hedwig Roth Gründe genug, auch im Hier und Heute noch frei von der Leber weg zu jodeln. Allerdings will sie in die positive Wirkung des Jodelns nicht zu viel hineingeheimnissen, denn: „Ich glaube, es passiert eben deshalb etwas, weil man es nicht erwartet“, sagt sie. Das Jodeln sei wie ein Stein, der ins Wasser geworfen werde. „Es setzt Schwingungen frei, die dem Körper gut tun und Spannungen lösen“, sagt Hedwig Roth. Darüber hinaus habe Jodeln auch etwas mit gemeinsamem Klingen zu tun, wenn es in der Gruppe praktiziert werde. „Das macht die Menschen glücklich und Glück macht gesund.“
In ihren Workshops motiviert die Allgäuerin aus Rettenberg ihre Schüler erst einmal, sich wieder an die eigene Urstimme heranzuwagen. Denn das Jodeln erfordert einen gewissen Mut zur Lautstärke. „Ein bisschen jodeln geht nicht. Man muss es ganz machen. Es ist wie beim ins Wasserspringen: Entweder man springt – oder eben nicht“, erklärt Hedwig Roth, die mit ihrer Gruppe „Vuimera“aus dem Jodeln eine frei improvisierte und dennoch harmonische Musikgattung schafft, die tatsächlich an Meditationsklänge und damit an Yoga erinnert. Aber auch das traditionelle Jodeln – in Tracht und Dirndl – liegen der Jodellehrerin, wie sie es mit der Jodlergruppe Vorderburg praktiziert.
Auch wenn die Traditionalisten auf dem Eidgenössischen Jodlerfest mit Yoga nicht bewusst etwas zu tun haben – auch hier in Brig heißt es bei einer der vielen Veranstaltungen: „Jodeln ist das Echo der eigenen Seele.“Diesen Tiefgang spüren die andächtig verstummten Zuhörer auch bei der Darbietung des „Jodlerklubs Alphüttli“aus Plaffeien im Kanton Freiburg. Mit „Mir Schwyzerlüt“legen die Männer und Frauen ein patriotisches Bekenntnis ab, während sie die Hände tief in den Hosentaschen und Trachtenschürzen vergraben. Der ganz offensichtlich anstrengende Gesang formt die Gesichter zu wechselhaften Grimassen und ermöglicht Harmonien von großer Kraft.
Mit einer Mischung aus UrschreiTherapie, volkstümlicher Tradition, Meditation und Kommunikationsmittel ist das Jodeln durchaus mehr, als der belächelte Gegenstand des berühmten Loriot-Klassikers. Es kommt nicht von ungefähr, dass sich auch das japanische Schwesternpaar Keiko Ito und Yuri Takei fest vorgenommen hat, 2020 wieder rund 10 000 Kilometer Reiseweg auf sich zu nehmen und in die Schweiz zurückzukehren. Dann findet das Eidgenössische Jodlerfest in Basel statt. Ihr ganz persönliches Jodeldiplom haben die beiden jedenfalls längst in der Tasche: „Holleri du dödel do. Di dudel dö. Du dödel die.“