Gabriel Schwaderer: Der Euronatur-Chef ist Naturschützer aus Leidenschaft.
Lebensräume für Tiere und Pflanzen sind massiv bedroht – Gabriel Schwaderer kämpft für den Schutz der Natur
Deutschland ist ein Land, in dem alles aufs Beste funktioniert und geregelt ist. Selbstverständlich gilt das auch für den Naturschutz – oder? Peter Laufmann hat mit Gabriel Schwaderer, dem Chef von Euronatur, über Europa, Selbsttäuschung und das Duett der Zwergtaucher gesprochen.
Sommer am Bodensee. Wenn Natur wie ein Paradies wirkt, dann hier und jetzt. Die Sonne scheint angenehm warm. Ein kräftiger Wind treibt vereinzelte Wolkenfetzen vor sich her, kräuselt das Wasser und bringt das Laub zum Rascheln.
Den Bodensee teilen sich Österreich, Deutschland und die Schweiz. Er ist quasi ein internationales Gewässer. Und Radolfzell damit ein perfekter Standort für eine Organisation, die Europa im Namen trägt. Welche Funktion hat Euronatur? Man nimmt Sie schließlich anders wahr als den Nabu oder den WWF.
Euronatur wurde 1987, also vor 30 Jahren, von BUND, Nabu und Deutscher Umwelthilfe gegründet. Naturschutz sollte ohne Grenzen gedacht und praktiziert werden. Leitmotiv war zunächst der Schutz der Zugvögel, weil man merkte, dass der Rückgang bestimmter Arten in Deutschland zwar auch etwas damit zu tun hat, wie wir das Land nutzen, aber eben auch mit der Situation entlang der Zugwege, der Situation in den Überwinterungs- und den Rastgebieten. Um diese Probleme anzugehen, brauchte es eine Organisation, die grenzüberschreitend arbeitet.
Wenn man sich die Gegend hier so anschaut, könnte man denken, in Sachen Natur ist alles gut.
Wenn man sich die Gesetze anschaut und die Schutzgebietsflächen, ja, dann könnte man den Eindruck bekommen, alles wäre in Ordnung. Doch sobald man in der Natur nachschaut, wie es wirklich um die biologische Vielfalt bestellt ist, dann kommt man zu einem anderen Urteil. Dann muss man konstatieren, dass es einen dramatischen Verlust an Biodiversität, an Lebensräumen gibt.
Ist Naturschutz bei uns etwas, das man sich leistet, wenn man zu viel Geld hat?
Im Moment könnte man den Eindruck gewinnen, dass es sich genau so verhält.
Wird Naturschutz in der EU nicht ganz ernst genommen?
Natur- und Umweltschutz haben prinzipiell eine hohe Akzeptanz. Aber wenn es zum Schwur kommt, wenn es ums Geld geht, dann setzen sich wirtschaftliche Interessen in der Regel durch.
Wir sind am Untersee, auf einem Aussichtsturm. Schwaderer kennt jede Bucht, jede Landzunge und jeden Vogel, der kurz zwischen den Bäumen, dem Schilf auftaucht. Kein Zweifel, der Bodensee ist ein Paradies für Tier und Mensch: 50 000 registrierte Boote plus Surfer und andere Sportler tummeln sich hier. Das Gewässer ist bedeutend für Zugvögel: Sing- und Zwergschwäne, Reiher-, Tafel-, Kolben- und Spießenten.
Das sieht ja alles sehr malerisch aus. Spürt man selbst hier den Rückgang der Biodiversität?
Natürlich. Allein die Zahl der Insekten hat dramatisch abgenommen. Früher hatte man nach einer Überlandfahrt mit dem Auto immer die Frontscheibe zu reinigen. Die Insekten sind wiederum die Nahrung für Vögel. Das heißt, es gibt zwangsläufig weniger Vögel. Wir fixieren uns in der Artenschutzdiskussion häufig allein darauf, ob eine Art in einem Gebiet vorkommt. Aber deren Zahl ist oft nachrangig. Ich finde es dramatisch, dass wir hier im Bodenseeraum keine Feldlerche mehr hören, kein Kiebitz mehr brütet, kein Rebhuhn mehr auffliegt. Viele frühere Allerweltsvögel sind heute einfach verschwunden.
Es heißt, dass der Bodensee mittlerweile so sauber sei, dass es kaum noch Fisch gebe ... Ist er zu sauber?
Ja, heißt es. Der Fischereiverband hat ein Faltblatt herausgegeben mit dem Titel: „Ein Juwel hungert“. Wir haben heute am Bodensee wieder eine Nährstoffsituation wie sie vor der Industriellen Revolution war. Da kann man also nicht von einem unnatürlichen Zustand sprechen. Heute haben wir einen natürlichen Zustand. Das wirkt sich selbstverständlich auf das Fischwachstum aus. Zum Glück lässt die Landesregierung da nicht dran rütteln.
Registrieren die Menschen den Verlust an Biodiversität überhaupt?
Das Naturbewusstsein, aber auch das Umweltbewusstsein steigt in unserer Gesellschaft. Es scheint allerdings eine gewisse Diskrepanz zwischen Bewusstsein und Verhalten zu geben. Man verbindet wohl das eigene Handeln nicht zwingend mit den Ergebnissen in der Landschaft. Zum Beispiel: Hier in Süddeutschland sind Streuobstwiesen ein ganz wichtiger Lebensraum. Sie sind dramatisch zurückgegangen. Man kann das beklagen oder fragen, was können wir denn tun? Doch das Obst von Streuobstbäumen möchte niemand mehr essen, Apfelsaft möchten wir auch nicht mehr, weil wir lieber Orangensaft trinken. Dann brauchen wir uns nicht zu wundern, wenn solche Kulturlandschaften, die ja erst durch die Nutzung durch den Menschen entstanden sind, auch nicht mehr „gebraucht“werden. Das heißt, Streuobstsafttrinker sind aktive Naturschützer. Insofern kann jeder Einzelne einen Beitrag leisten.
Das scheint besonders sichtbar, wenn Feldhamster oder Lurche als Arbeitsplatzvernichter dargestellt werden.
Ja, das ist eine ziemlich traurige Diskussion mit verschiedenen Dimensionen. Die eine Dimension ist, dass man tatsächlich behauptet, der Feldhamster vernichte Arbeitsplätze. Die andere Dimension ist, dass auch der Naturschutz häufig mit diesen Arten argumentiert. Und warum passiert das? Weil wir fast nur rechtliche Argumente haben, die im Artenschutz angesiedelt sind. Deshalb wird von beiden Seiten damit argumentiert. Es geht um rechtliche Auseinandersetzungen, es geht gar nicht um die politische Entscheidung.
Mittlerweile sind wir zum Mindelsee gekommen. Es zirpt vielstimmig aus dem hohen Gras. Überall leuchten Blumen farbenfroh aus dem Grün. Klappertopf und Storchschnabel fallen sofort ins Auge.
Wie mischt sich Euronatur in anderen Ländern ein?
Wir arbeiten mit Partnern zusammen. In Montenegro etwa mit Czip, der wichtigsten Naturschutzorganisation dort, die auch für den Erhalt der Saline Ulcinj kämpft. Das ist eine Partnerschaft, die von den Organisationen in den Ländern ausgeht; wir ziehen also nicht herum und suchen. Gerade auf dem Balkan gibt es zahlreiche Beispiele für geplante Naturzerstörung.
Welche?
Ein Beispiel aus Albanien: die Vjosa, einer der letzten Wildflüsse in Europa. Hier will die Regierung bis zu acht Wasserkraftwerke bauen. Wir propagieren einen Nationalpark. Ein weiteres Beispiel: Zwei Drittel der Urwälder, die wir in der EU haben, liegen in Rumänien. Der Verlust ist dramatisch, obwohl sich die meisten in Natura-2000-Gebieten befinden. Da sind wir wieder bei der Diskrepanz zwischen Anspruch und Wirklichkeit.
Europa hat im Moment damit zu kämpfen, dass sich Länder der europäischen Integration entziehen. Hat Naturschutz die Kraft, ein verbindendes Element in Europa zu sein.
Naturschutz kann einen Beitrag zur europäischen Verständigung leisten. Ist aber auch umgekehrt ein schlagendes Argument dafür, dass wir die europäische Integration nicht aufs Spiel setzen dürfen.
Die europäische Naturschutzgesetzgebung ist bei allen Mängeln im Detail ein prinzipiell sehr gutes Gesetzeswerk.