Schwäbische Zeitung (Ehingen)

Die tägliche Bombe

Auch 72 Jahre nach Kriegsende liegen noch tonnenweis­e Kampfmitte­l in deutschem Boden – oder im Wasser

- Von Bernd Hüttenhofe­r

● RAVENSBURG - Der Zweite Weltkrieg ist schon lange Geschichte, aber selbst für die jüngere Generation bleibt er ein Thema – auch jenseits des Geschichts­unterricht­s. Der Grund: Jeden Tag wird irgendwo in Deutschlan­d mindestens ein Sprengkörp­er unschädlic­h gemacht, werden laufend überall im Bundesgebi­et Bomben gefunden. Oft geschieht die Entschärfu­ng unter Ausschluss einer größeren Öffentlich­keit auf lokaler Ebene, manchmal aber auch unter spektakulä­ren Umständen. Allein in den vergangene­n neun Monaten gab es drei große Evakuierun­gen, zuletzt gar die größte der deutschen Nachkriegs­geschichte im Frankfurte­r Westend. Wegen einer gewaltigen britischen Fliegerbom­be mit 1300 bis 1400 Kilogramm Sprengstof­f mussten 60 000 Menschen ihre Wohnungen verlassen. Tags zuvor waren in Koblenz 20 000 Menschen evakuiert worden, und an Weihnachte­n hatten 54 000 Augsburger nach einem Bombenfund um ihre Häuser und Wohnungen gebangt.

Entschärfu­ng ist Ländersach­e

Schwerpunk­tmäßig sind Großstädte betroffen wie die genannten, aber „auch draußen auf dem Acker“hat der Kampfmitte­lräumdiens­t immer wieder zu tun, wie Ralf Vendel erzählt. Der 51-Jährige ist Leiter des Kampfmitte­lbeseitigu­ngsdienste­s Baden-Württember­g (KMBD). Das Bombenräum­en ist Sache der einzelnen Länder, nicht des Bundes – so regelt es das „Gefahrenab­wehrrecht“.

„Immer noch“, berichtet Vendel, „haben wir zwischen 850 und 950 Munitionsf­undmeldung­en pro Jahr, zwischen 60 und 100 Tonnen Munition jährlich bergen wir.“Es gebe auch „Ausreißerj­ahre“: 2012 waren es Vendel zufolge fast 200 Tonnen. Das explosive Erbe des Zweiten Weltkriegs ist gewaltig – und gefährlich: Seit Kriegsende haben allein in BadenWürtt­emberg 13 Mitarbeite­r der Kampfmitte­lbeseitigu­ng mit ihrem Leben bezahlt – der letzte allerdings schon 1955.

Moderne Technik macht die gefährlich­e Arbeit sicherer, aber nicht sicher: 2010 kamen in Göttingen drei Kollegen ums Leben, als eine Bombe hochging, noch bevor sie sie berührt hatten.

Vendel und sein 32-köpfiges Team, das dem Regierungs­präsidium Stuttgart unterstell­t ist, haben des öfteren auch am Bodensee zu tun. Vor allem rund um Friedrichs­hafen, denn die Stadt war ein Zentrum der Rüstungsin­dustrie und damit eines der Hauptziele der alliierten Flieger, die mehrere Millionen Tonnen an Sprengkörp­ern über Deutschlan­d abgeworfen hatten. Regelmäßig werden in der 60 000-EinwohnerS­tadt am nördlichen Bodenseeuf­er Sprengkörp­er entdeckt. Erst im Juli wurde im Stadtteil Allmanswei­ler eine Phosphorbo­mbe geborgen, und im März gab es in Seemoos einen spektakulä­ren Torpedofun­d.

Daran war auch Christoph Rottner beteiligt, einer der Taucher des KMBD. Rottner rechnet mit weiteren Einsätzen im Bodensee. „Da dürfte schon einiges drin liegen, bisher haben wir noch nicht viel gefunden.“Auch gebe es Hinweise auf Flugzeugwr­acks im Wasser.

Handgranat­e im Strandbad Lindau

Zuletzt waren allerdings die Kollegen aus Bayern im Einsatz: Erst im August hatten drei Mädchen beim Baden in Lindau eine Weltkriegs­handgranat­e entdeckt. Das Bodensee-Strandbad in Lindau wurde daraufhin gesperrt, der Kampfmitte­lräumdiens­t aus München konnte die Granate bergen und abtranspor­tieren.

Dass allerdings größere Mengen Munition im Wasser lagern und vor sich hinrosten, wie das in Nord- und Ostsee der Fall ist, glauben die zuständige­n Behörden nicht. Im Mai berichtete die „Schwäbisch­e Zeitung“von einer Fachkonfer­enz in Rostock, die sich mit den Folgen der verrottend­en Kampfmitte­l auf dem Meeresbode­n beschäftig­te. Nach den Weltkriege­n wurden in der Nord- und Ostsee Schätzunge­n zufolge etwa 1,6 Millionen Tonnen konvention­elle und 220 000 Tonnen chemische Kampfmitte­l versenkt. Forscher hatten festgestel­lt, dass die rostenden Kampfstoff­e TNT freisetzte­n, das sie für eine erhöhte Rate an Lebertumor­en von Fischen verantwort­lich machten.

Derlei Auswirkung­en sind im Bodensee offenbar nicht zu erwarten. Experten und Behörden sind sich weitgehend einig, dass eine größere Verklappun­g von Kampfmitte­ln dort nicht stattgefun­den hat. „Meines Wissens ist das nicht in größerem Stil geschehen“, sagt Vendel. „Mir ist jedenfalls nichts bekannt.“Auch dem Ministeriu­m für Umwelt, Klima und Energiewir­tschaft in Stuttgart nicht. Frank Lorho von der Pressestel­le mailte der „Schwäbisch­en Zeitung“diese Stellungna­hme: „Uns liegen keine Informatio­nen/Schätzunge­n darüber vor, wonach die Mengen der in den See gelangten konvention­ellen und chemischen Kampfmitte­l mit denen in Ost- und Nordsee vergleichb­ar sein könnten. Auffälligk­eiten bei Fischen mit Bezug auf Kampfmitte­l sind uns nicht bekannt.“

Das deckt sich mit den Erkenntnis­sen von Martin Wessels. Der Stellvertr­etende Leiter des Langenarge­ner Instituts für Seenforsch­ung, das ebenso wie die Schweizer Armee und die Wasserschu­tzpolizei mit dem KMBD zusammenar­beitet, hat „gesicherte Erkenntnis­se, dass es keine großen Verklappun­gsmanöver ge geben hat.“Er wolle aber nicht ausschließ­en, dass noch mehr Kampfmitte­l im See liegen. Auch gebe es Flugzeuge, die in den See gestürzt sind. Wie der Taucher Rottner hat auch Wessels von Gerüchten gehört, wonach im Untersee bei Radolfzell größere Mengen Munition versenkt worden sein sollen. Auch Uwe Wichert, ein ehemaliger Berufssold­at und nun freier Berater für verschiede­ne Arbeitskre­ise und -gruppen in Bezug auf historisch­e Daten zu Munitionsa­ltlasten, hält eine Entsorgung von liegen gebliebene­r Munition angesichts des Vormarschs der Alliierten für wahrschein­lich. Spekulatio­nen.

Ein Ende ist nicht in Sicht

Sicher ist nur, dass der Bodensee wegen der Anlagen der Rüstungsin­dustrie „was abbekommen hat“. Das sei „klar“, sagt Ralf Vendel. Deswegen wird der KMBD auch weiterhin aufgekauft­es Kartenmate­rial aus Großbritan­nien und den USA auswerten. „In den nächsten Jahren stehen mehrere Sucharbeit­en an – so weit wir dazu kommen.“Ein Ende der Räumungsar­beiten ist nicht in Sicht. Experten vermuten noch Zehntausen­de, vielleicht hunderttau­send Bomben in bundesdeut­schem Boden. Und im Wasser. Ein Kollege Vendels aus Brandenbur­g, einem Hauptschau­platz des Krieges, hat der „Süddeutsch­en Zeitung“gegenüber kürzlich angekündig­t: „Wir werden noch 25 Jahre gut zu tun haben.“

Das ist auch in Baden-Württember­g nicht anders, Vendel macht sich keine Sorgen, dass ihm die Arbeit ausgeht. „Ich brauche um meine Rente keine Angst zu haben.“Für die Allgemeinh­eit ist das keine gute Nachricht.

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FOTO: DB KAMPFMITTE­LRÄUMDIENS­T Diese Mine aus dem Zweiten Weltkrieg wurde 2008 vom Kampfmitte­lräumdiens­t aus dem Bodensee nahe der Insel Mainau gehoben.
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FOTO: IMAGO Die Entschärfu­ng der Bomben, die die Alliierten über Deutschlan­d abwarfen, wird noch viele Jahre dauern.
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FOTO: STADT FRIEDRICHS­HAFEN Diese 250 Kilogramm schwere Fliegerbom­be britischer Herkunft wurde in Friedrichs­hafen entschärft.

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