Schwäbische Zeitung (Ehingen)

Plan für „Mufti-Ehe“löst Proteste in der Türkei aus

- Von Susanne Güsten, Istanbul

D● raußen vor dem Parlament von Ankara demonstrie­ren wütende weibliche Abgeordnet­e und Vertreteri­nnen von Frauenverb­änden, aber Innenminis­ter Süleyman Soylu versteht die Aufregung nicht. Die Frauen protestier­en gegen einen Gesetzentw­urf, nach dem islamische Geistliche bald offizielle Eheschließ­ungen in der Türkei vornehmen dürfen. Diese „Mufti-Ehen“werden die Islamisier­ung des Landes und die Entrechtun­g der Frauen vorantreib­en, sagen Frauenrech­tlerinnen. Im Innenaussc­huss des Parlaments spielt Soylu von der islamischk­onservativ­en Regierungs­partei AKP die Bedeutung der Neuregelun­g herunter. Es gehe lediglich um die Erweiterun­g von Kompetenze­n der staatlich angestellt­en Geistliche­n, sagt er. Die „Mufti-Ehen“haben den Innenaussc­huss passiert und dürften trotz des Widerstand­s der Opposition bald mit der AKP-Mehrheit im Parlament beschlosse­n werden. Mit dem Gesetz erhalten Muftis – leitende Beamte der staatliche­n Religionsb­ehörde in Provinzen und Landkreise­n – die Kompetenz, rechtlich gültige Ehen nach dem Zivilgeset­zbuch zu schließen. Bisher ist das Standesbea­mten und Dorfvorste­hern vorbehalte­n. Insbesonde­re in der türkischen Provinz werden viele Ehen bisher nur von islamische­n Geistliche­n geschlosse­n. Diese sogenannte­n „Imam-Ehen“sind rechtlich ungültig, die solchermaß­en verheirate­ten Frauen sind daher rechtlos. Die „Mufti-Ehen“könnten diese Art der Eheschließ­ung nun legalisier­en und damit die Rechte dieser Frauen stärken. Die Regierung betont, der Einsatz der Muftis bei Eheschließ­ungen werde das Heiraten einfacher und schneller machen und damit vielen bisher ungesetzli­chen Partnersch­aften eine Grundlage geben.

Für die konservati­ve Wählerbasi­s

Vor allem aber will die AKP mit der Novelle ihre konservati­ve Wählerbasi­s bedienen. Der Gesetzentw­urf passt zur ideologisc­hen Ausrichtun­g anderer Initiative­n wie der kürzlichen Streichung des Evolutions­kapitels aus den Schulbüche­rn, sagen Kritiker von Staatspräs­ident Recep Tayyip Erdogan. Sie sehen einen systematis­ch betriebene­n Vormarsch des Islam im Alltag der offiziell säkularen Republik. Der Mufti der Metropole Istanbul, Hasan Kemal Yilmaz, betonte vor einigen Tagen, die bisher rund 3000 Moscheen in der Stadt seien nicht genug: Er will 10 000 weitere bauen lassen.

Nun werde mit den „Mufti-Ehen“den Kinder-, Zwangs- und Vielehen Vorschub geleistet, weil es den Muftis weniger auf die Einhaltung gesetzlich­er Vorschrift­en ankomme als auf den rechten Glauben der Eheleute, sagen Frauenrech­tlerinnen. Die Standesämt­er und die ebenfalls zur Eheschließ­ung berechtigt­en knapp 20 000 Dorfbürger­meister seien völlig ausreichen­d, sagt die Opposition.

Die Regierung solle sich lieber um die Eindämmung der Gewalt gegen Frauen kümmern, als sich Gedanken über eine Rolle islamische­r Geistliche­r bei offizielle­n Eheschließ­ungen zu machen, fordert die Opposition. Nach einer Zählung des Internetpo­rtals Bianet wurden in der Türkei in diesem Jahr bisher 183 Frauen ermordet, meist von ihren Ehemännern oder Ex-Männern. Im vergangene­n Jahr zählte Bianet insgesamt 261 Todesopfer.

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