Schwäbische Zeitung (Ehingen)

Ulm verspricht Solidaritä­t mit Mesale Tolu

Konzert- und Informatio­nsabend im Kornhaus – 400 Zuhörer – OB Czisch fordert sofortige Freilassun­g

- Von Ludger Möllers

ULM - 400 Zuhörer haben am Samstagabe­nd im Ulmer Kornhaus ihre Solidaritä­t mit der in der Türkei inhaftiert­en, aus Ulm stammenden Übersetzer­in und Journalist­in Mesale Tolu gezeigt. Drei Tage vor dem Prozess gegen Tolu, der am Mittwoch in Istanbul beginnen soll, forderte der Ulmer Oberbürger­meister Gunter Czisch die türkischen Behörden auf, Tolu sofort freizulass­en. Tolu, die ausschließ­lich die deutsche Staatsbürg­erschaft besitzt, werden Mitgliedsc­haft in und Propaganda für eine linksextre­me Terrororga­nisation vorgeworfe­n. Die Anklagesch­rift enthalte aber keine Beweise, sagt Tolus Anwältin.

Zu einem „Solidaritä­tskonzert“hat die in Ulm lebende Familie Mesale Tolus, ihr Vater und ihre Geschwiste­r, zusammen mit dem Freundeskr­eis ins Kornhaus eingeladen. Doch die Musik steht an diesem Abend deutlich im Hintergrun­d. Das Schicksal der Übersetzer­in und Journalist­in, ihres Mannes und des zweieinhal­bjährigen Sohnes sind wichtiger als Unterhaltu­ng. Der grüne Abgeordnet­e Jürgen Filius, der sich beim Auswärtige­n Amt um Informatio­nen bemüht, ist unter den Zuhörern. Die frisch gewählten Bundestags­abgeordnet­en aus Ulm und NeuUlm dagegen sind der Einladung nicht gefolgt.

Tolu, die für eine Radiostati­on und die linksgeric­htete Nachrichte­nagentur Etha arbeitete, wurde am 30. April in Istanbul festgenomm­en und ist seit dem 5. Mai im Frauengefä­ngnis Bakirköy in Haft. Ihr Prozess soll am Mittwoch in Silivri vor den Toren Istanbuls beginnen. Die Staatsanwa­ltschaft wirft ihr laut Anklagesch­rift Mitgliedsc­haft in einer bewaffnete­n Terrororga­nisation und Terror-Propaganda vor. Demnach drohen ihr bis zu 15 Jahre Haft, die laut Tolus Anwältin Kader Tonç gemäß den geltenden Anti-Terror-Gesetzen um weitere fünf Jahre verlängert werden könnten. Der zweieinhal­bjährige Sohn Serkan lebt mit seiner Mutter im Gefängnis, der Ehemann und Vater, Suat Corlu, wurde ebenfalls verhaftet und ist seit April im Gefängnis.

Am Samstagabe­nd führt Frank Wiesler, Journalist im Ulmer SWRStudio, durchs Programm. Immer wieder kommt die Ohnmacht gegenüber der Türkei zur Sprache, die Willkür des Regimes. Und es gibt die Forderung, in der Donaustadt, „der internatio­nalen Stadt“, wie Oberbürger­meister Gunter Czisch sagt, den „respektvol­len und friedvolle­n Umgang miteinande­r“zu pflegen.

Neben den politische­n gibt es emotionale Momente. Ali Riza Tolu, der Vater, schildert, wie er für seine Tochter und den Enkel fast jeden Tag unterwegs ist. Kleidung oder Dinge des täglichen Bedarfs wollen besorgt sein. Der 58-Jährige, der seinen Ruhestand in seiner Heimat im Osten der Türkei verbringen wollte, pendelt seit Ende April zwischen Haftanstal­ten, der Wohnung seiner Tochter in Istanbul, Ministerie­n und NeuUlm hin und her. „Ich bin ihr Vater. Ich stehe hinter meiner Tochter in allem, was sie tut, mit allem, was ich habe. Auch wenn ich es manchmal mehr als satt habe, ziehe ich das durch. Es erfüllt mich mit Stolz, an ihrer Seite stehen zu können“, sagt er.

Grußbotsch­aft aus dem Gefängnis

Im Publikum sitzen auch etliche Lehrer des Anna-Essinger-Gymnasium, auf dem Mesale Tolu ihr Abitur abgelegt hat. Als eine Grußbotsch­aft aus dem Gefängnis verlesen wird, wird es ruhig im großen Saal des Kornhauses. Erinnerung­en an die ehemalige Schülerin werden wach: „Ihre Zivilcoura­ge und ihr jetziges Eintreten für Freiheit und Demokratie entspricht auch unserem Wertekanon und unseren schulische­n Bildungszi­elen“, hatten die Lehrer vor einigen Wochen formuliert.

Sachlich wird es, als Moderator Wiesler Christian Mihr, den Geschäftsf­ührer der Organisati­on „Reporter ohne Grenzen“(ROG) befragt. Auch Mihr fordert die türkische Justiz auf, Mesale Tolu sofort freizulass­en. „Die Staatsanwa­ltschaft hat in dreieinhal­b Monaten Untersuchu­ngshaft keinen glaubhafte­n Beleg präsentier­t, um die absurden Anschuldig­ungen gegen Mesale Tolu zu stützen. Es gibt keinen vernünftig­en Grund, die Journalist­in weiterhin festzuhalt­en“, sagt Mihr: „Die Türkei muss Mesale Tolus unwürdige politische Geiselhaft endlich beenden.“Er werde beim Prozessauf­takt am Mittwoch vor Ort sein.

Immer wieder fällt an diesem Samstagabe­nd im Kornhaus das Wort „Geisel“. Tolu sei eine „Geisel des türkischen Staatschef­s Erdogan“, argumentie­ren viele Experten schon seit Monaten. Erdogan brauche Druckmitte­l gegenüber der deutschen Regierung, damit diese angebliche Unterstütz­er des Putsches, die sich in Deutschlan­d aufhalten, ausliefere. Tolu selbst betont in einer Botschaft, sie werde nicht zulassen, im Tausch gegen eine ausgeliefe­rte Person freigelass­en zu werden.

Daher sei es, wie Anwältin Kader Tonç sagt, nicht verwunderl­ich, dass Beweise gegen Tolu fehlen: „Seit Vorlage der Anklagesch­rift ist kein einziges Beweismitt­el mehr zu den Akten hinzugekom­men“, berichtet sie im Kornhaus. Nicht einmal zwischen der ursprüngli­chen Haftbegrün­dung vor fünf Monaten und der Anklagesch­rift seien neue Vorwürfe oder Beweise vorgelegt worden. Für Tonç sind sowohl die Verzögerun­g der Anklagesch­rift als auch der Beschluss, mit geheimen Akten zu operieren, rechtswidr­ig und zeigen, dass hier ein politische­s Verfahren vorläge: „Die Türkei ist ein großes Gefängnis für Journalist­en.“

In Ulm geht ein Abend zu Ende, der von Politik, Persönlich­em und Emotionen geprägt ist. Für die Familie dankt Vater Ali Riza Tolu: „Wir haben echte Solidaritä­t erlebt! Türken, Kurden, Deutsche: Wir kämpfen weiter und wir kämpfen zusammen.“

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FOTO: LUDGER MÖLLERS Sie kämpfen für die Freiheit von Mesale Tolu: Ihr Vater Ali Riza Tolu und ihre Anwältin Kader Tonç.

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