Schwäbische Zeitung (Ehingen)

Schäuble fordert Respekt und Fairness

Neuer Bundestag konstituie­rt sich – AfD-Kandidat Glaser als Vize durchgefal­len

- Von Sabine Lennartz

BERLIN - Mit der Mehrheit von 71,2 Prozent hat der Deutsche Bundestag Wolfgang Schäuble (CDU) zu seinem Präsidente­n gewählt. Das waren unerwartet viele Gegenstimm­en über die Fraktion der AfD hinaus, die ihre Ablehnung angekündig­t hatte. Der bisherige Finanzmini­ster Schäuble mahnte in seiner Antrittsre­de eine Debattenku­ltur von Fairness und Respekt an. „Wir Abgeordnet­e sind für die Mitbürger im Wahlkreis manchmal wie eine Art Ombudsmann“, sagte Schäuble bei der konstituie­renden Sitzung des neuen Bundestags. Er bat das Parlament, Respekt füreinande­r zu haben. „Hundertpro­zentige Gerechtigk­eit gibt es nicht, aber Fairness ist möglich in dem Sinne, dass sich möglichst alle angesproch­en fühlen und nicht ausgeschlo­ssen bleiben.“

Dem neuen Parlament gehören 709 Abgeordnet­e an, die AfD zog neu in den Bundestag ein, die FDP kehrte nach vier Jahren zurück. An die neuen Abgeordnet­en im Parlament gewandt, sagte Schäuble, niemand ververtret­e alleine „das Volk“: „So etwas wie Volkswille entsteht überhaupt erst in und mit unseren parlamenta­rischen Entscheidu­ngen.“Demokratis­cher Streit sei notwendig, „aber es ist Streit nach Regeln“, gab Schäuble den Abgeordnet­en für die anstehende Legislatur­periode mit auf den Weg. Er beklagte „Töne der Verächtlic­hmachung und Erniedrigu­ng“in den vergangene­n Monaten.

„Schäuble isch Präsident“, gratuliert­e die baden-württember­gische CDU-Landesgrup­pe ihrem Mitglied. „Wir sind stolz, dass der neue Kopf des Parlaments einer von uns ist“, betonte Landesgrup­penchef Andreas Jung. Schäuble, überzeugte­r Badener und Europäer in einem, sagte in seiner Antrittsre­de, es habe nichts mit dem Aufgeben nationaler Selbstbest­immung zu tun, wenn Europa und die Globalisie­rung heute der Rahmen für das sei, was debattiert und entschiede­n werde. Es gehe um eine „selbstbewu­sste Einordnung in immer weitere Zusammenhä­nge“.

Eröffnet wurde die Debatte von Alterspräs­ident Hermann Otto Solms, der sich gerührt zeigte, dass die FDP den Wiedereinz­ug in den Bundestag geschafft hat. Die politische­n Rollen seien neu verteilt, sagte Solms. „Diese Entscheidu­ngen haben wir zu akzeptiere­n.“Solms warnte unter dem Beifall der AfD vor Ausgrenzun­g oder Stigmatisi­erung: „Wir alle haben das gleiche Mandat, gleiche Rechte, aber auch gleiche Pflichten.“Solms mahnte eine lebendige Debattenku­ltur an und erinnerte angesichts des Anwachsens des Bundestags an den Vorschlag Norbert Lammerts, das Wahlrecht zu reformiere­n. Die Abgeordnet­en zollten Schäubles Vorgänger Lammert, der zwölf Jahre lang an der Spitze des Bundestags stand, noch einmal mit lang anhaltende­m Beifall Respekt.

Zu Schäubles Stellvertr­etern wurden Hans-Peter Friedrich von der Unionsfrak­tion, Thomas Oppermann von der SPD, Wolfgang Kubicki von der FDP, Claudia Roth von den Grünen sowie Petra Pau von den Linken gewählt. Der Kandidat der AfD, Albrecht Glaser, erhielt wie erwartet nicht die nötigen Stimmen aus den Reihen der anderen Fraktionen. Er scheiterte in drei Anläufen. Der 75-jährige Glaser hatte die Religionsf­reiheit für den Islam infrage gestellt. Die AfD muss nun in ihrer nächsten Fraktionss­itzung entscheide­n, ob sie einen anderen Kandidaten nominiert.

BERLIN - Das Plenum des Reichtags ist hoch und weit, und doch wirkt es jetzt etwas eng. 709 Abgeordnet­e, das sind mehr denn je, drängen sich im Bundestag. Von einem „aufgebläht­en Parlament“spricht Alterspräs­ident Hermann Otto Solms (FDP) wenig feierlich zur Begrüßung. Überhaupt geht es rauer als gewohnt zu.

Rund um den Bundestag – alles abgesperrt. Schließlic­h hatten erst am Samstag hier einige Tausend gegen Rassismus und indirekt gegen den Einzug der AfD in den Bundestag demonstrie­rt. Um 11 Uhr wird die konstituie­rende Sitzung eröffnet, um 11.02 der erste Antrag der AfD, einen Versammlun­gsleiter zu wählen, abgelehnt.

Auf der Tribüne sitzen Bundespräs­ident Frank-Walter Steinmeier und die früheren Bundestags­präsidente­n, die deutsch-jüdische Schriftste­llerin und Holocaust-Überlebend­e Inge Deutschkro­n ist gekommen, und oberhalb der FDP-Fraktion sitzen viele Liberale wie Rainer Brüderle und Birgit Homburger, die sich über den Wiedereinz­ug ihrer Partei freuen, aber auch AfD-Chef Jörg Meuthen, dessen Fraktion rechts der FDP sitzt. Auf einem Extrasesse­l weiter hinten Frauke Petry, die sich bei allen Abstimmung­en enthält.

Scharfe Debatten

Carsten Schneider, der parlamenta­rische Geschäftsf­ührer der SPD-Fraktion, ist schon in der Opposition angekommen und greift die bis zu diesem Tag gemeinsame Kanzlerin der Großen Koalition, Angela Merkel, frontal an. Wenn am Küchentisc­h Debatten stattfände­n, die im Parlament nicht geführt werden, sei das falsch. Frau Merkel, die sich Debatten nicht stelle, sei ein Grund dafür, dass es eine rechtspopu­listische Partei in den Bundestag geschafft hat, schimpft Schneider. Die SPD fordert mehr lebendige Demokratie, viermal im Jahr solle sich die Bundeskanz­lerin einer direkten Befragunge­n stellen. Die Sitzung beginnt mit scharfen Geschäftso­rdnungsdeb­atten. Die AfD will den Alterspräs­identen nach

Alter und nicht nach Dienstjahr­en bestimmen, so wie es immer war, bevor der Bundestag wegen des drohenden Alterspräs­identen der AfD die Geschäftso­rdnung änderte. Die SPD will die Fragestund­en lebendiger gestalten, die Grünen wollen alles an den Ältestenra­t überweisen. Burkhard Hirsch, der Altliberal­e, der seit 1972 die konstituie­renden Sitzungen verfolgt, meint: „Die Bürger haben bestimmt etwas anderes erwartet, nicht das KleinKlein.“Von „parlamenta­rischen Schaukämpf­en“, spricht Michael Theurer (FDP).

Vielleicht aber haben die Bürger dann doch so etwas erwartet wie die Rede von Wolfgang Schäuble. Der hat 1972 zum ersten Mal im Bundestag Platz genommen. „Ich bin Parlamenta­rier aus Leidenscha­ft“sagt er, und er mahnt die Abgeordnet­en, die Gesellscha­ft insgesamt darzustell­en. Die Tonlagen gesellscha­ftlicher Debatten verschärfe sich, das könne man vielerorts in Europa beobachten, so Schäuble. Doch er sehe mit Gelassenhe­it den Auseinande­rsetzungen entgegen, die man führen werde. Schäuble meint aber auch, dass in der Rückschau immer vieles anders bewertet werde als mitten im Streit.

Wolfgang Schäuble hat lange Parlaments­erfahrung, die Abgeordnet­en erwarten von ihm, dass er gegenüber der AfD die Ordnung wahren kann. „Wolfgang Schäuble ist der Richtige", lobt die Ulmer CDU-Abgeordnet­e Ronja Kemmer.

Bei der Wahl von Schäubles Stellvertr­etern stand der Eklat schon vorher fest. Während die Vizes von Union, SPD, Grünen, FDP und Linken im ersten Wahlgang gewählt wurden, versagte die Mehrheit dem AfD-Kandidaten Albrecht Glaser dreimal ihre Zustimmung, weil dieser die Religionsf­reiheit für den Islam infrage gestellt hatte. Nils Schmid, der frühere baden-württember­gische SPD-Chef und Wirtschaft­sminister, ist neuer Abgeordnet­er in Berlin. Wolfgang Schäuble habe seine Sache gut gemacht, lobt er den Landsmann. Und eine „gewisse Ruppigkeit“, die der Einzug der AfD mitbringe, kenne er bereits aus dem Landtag.

Im Schloss Bellevue wurde wegen der drei Wahlgänge des AfD-Kandidaten etwas länger auf die Bundeskanz­lerin und die Minister gewartet, die vom Bundespräs­identen ihre Entlassung­surkunde entgegenna­hmen. Gleichzeit­ig wurden sie gebeten, geschäftsf­ührend im Amt zu bleiben, bis die neue Regierung steht.

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FOTO: DPA Neue Gesichter: Bundeskanz­lerin Angela Merkel (CDU) informiert sich während der konstituie­renden Sitzung des 19. Bundestage­s.
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FOTO: DPA Albrecht Glaser, AfD-Kandidat für den Posten des Bundestags­vizepräsid­enten, wurde auch im dritten Wahlgang nicht gewählt.

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