Tanz mit der Tora
Im Rathaus vollendet ein Schreiber aus Israel die neue Heilige Schrift der Gemeinde
ULM - Im Dämmerlicht des späten Sonntagnachmittags tanzen bärtige Männer mit breitkrempigen Hüten singend über den Hans-und-SophieScholl-Platz. Einer von ihnen trägt eine Pergamentrolle an silbernen Stangen. Sie ist geschützt durch eine bunt bestickte Haube und einen Baldachin an vier Stangen. Neben den Tänzern tönt Musik aus Boxen, die auf einem alten Unimog stehen. Um sie herum hat sich eine Menschentraube gebildet, im Kreis der bärtigen Männer bewegt sich Oberbürgermeister Gunter Czisch, eine weiße Kippa auf dem Kopf. Es ist ein Festtag für die Ulmer Juden. Nicht nur der fünfte Jahrestag der Einweihung der neuen Synagoge am Weinhof, sondern auch der Tag, an dem diese Synagoge eine neue ToraRolle erhält.
Für den Ulmer Rabbiner Shneur Trebnik war es wichtig, dass diese Feier nicht nur ein religiöses Fest ist, sondern eines für alle Bürger der Stadt. Neben vielen Mitgliedern der jüdischen Gemeinde, OB Czisch und anderen Vertretern der Stadt sind Politiker aus Stuttgart und Berlin gekommen. Unter denen, die den Reden beim Festakt im Rathaus lauschen, sind einige, die sich von ihren Nachbarn erklären lassen, was gerade passiert und was eine Tora-Rolle auszeichnet. Die Pergamentrolle umfasst die fünf Bücher Mose, mit Federkiel in hebräischen Buchstaben gesetzt. Etwa ein Jahr lang hat ein kunstfertiger und erfahrener Schreiber aus Israel daran gearbeitet. Die letzten Buchstaben der Tora hat er in Deutschland geschrieben. Erst am Freitag im Stuttgarter Landtag, dann am Sonntag im Rathaus von Ulm.
Diese Orte hat Rabbi Trebnik bewusst ausgewählt. Sie sollen symbolisch dafür stehen, dass die jüdische Gemeinde fester Teil der Gesellschaft im Land und in der Stadt ist. Dem Rabbiner ist es vorbehalten, den letzten der 319 000 Buchstaben auf die Pergamentrolle zu schreiben. Dann erinnert er an die Anfänge der jetzigen jüdischen Gemeinde in Ulm – bis 1938 hatte es schon einmal eine Synagoge in der Stadt gegeben. Diese stand nur ein paar Schritte von der heutigen entfernt und wurde in den Novemberpogromen von den Nationalsozialisten zerstört.
Einmal pro Woche die bei orthodoxen Juden erforderliche Mindestzahl von zehn erwachsenen Männer für einen Gottesdienst zusammenzubekommen, das sei vor 17 Jahren sein Traum gewesen, berichtet Trebnik. Damals war der Rabbiner mit seiner Frau und seiner Tochter nach Ulm gekommen. „Jeder, der das gehört hat, hat gelacht“, berichtet Trebnik und erzählt vom Gottesdienst am Vortag: Mehr als 70 Leute hätten teilgenommen. Die Gemeinde ist in den vergangenen Jahren auf rund 500 Mitglieder gewachsen. Die meisten von ihnen sind aus Ländern der ehemaligen Sowjetunion nach Ulm gezogen.
Abraham Lehrer, Vizepräsident des Zentralrats der Juden, geht auf die jüdische Tradition ein, bei erfreulichen Anlässen auch Schlechtes in Erinnerung zu rufen. Er warnt vor neuen Tendenzen von Antisemitismus in der Gesellschaft, doch Lehrer sagt auch: „Wer eine Tora-Rolle einbringt, hat sich entschlossen, zu bleiben und ist angekommen in diesem Land.“
Schlechtes in Erinnerung zu rufen, will Ulms Rabbiner Trebnik an diesem Tag nicht gelingen. Er nennt die neue Tora-Rolle ein Symbol für die Ulmer Juden und die gesamte Stadt. „Wir sind in Ulm groß geworden und wir bleiben gemeinsam“, sagt er. Das ist ganz im Sinn von Oberbürgermeister Czisch, der die Einbringung der Rolle einen „wichtigen Meilenstein in der Geschichte unserer Stadt“nennt. „Die Synagoge und der Rabbiner mit seiner Gemeinde beleben unsere Stadt“, lobt der Politiker. Er sei kein guter Tänzer, bekennt er. Das bewahrt Czisch nicht davor, mit dem Rabbiner, anderen jüdischen Würdenträgern und Mitgliedern der Ulmer Gemeinde über die Plätze der Stadt bis zur Synagoge am Weinhof zu tanzen. Es ist ein fröhlicher Festzug.