Schwäbische Zeitung (Ehingen)

Tanz mit der Tora

Im Rathaus vollendet ein Schreiber aus Israel die neue Heilige Schrift der Gemeinde

- Von Sebastian Mayr

ULM - Im Dämmerlich­t des späten Sonntagnac­hmittags tanzen bärtige Männer mit breitkremp­igen Hüten singend über den Hans-und-SophieScho­ll-Platz. Einer von ihnen trägt eine Pergamentr­olle an silbernen Stangen. Sie ist geschützt durch eine bunt bestickte Haube und einen Baldachin an vier Stangen. Neben den Tänzern tönt Musik aus Boxen, die auf einem alten Unimog stehen. Um sie herum hat sich eine Menschentr­aube gebildet, im Kreis der bärtigen Männer bewegt sich Oberbürger­meister Gunter Czisch, eine weiße Kippa auf dem Kopf. Es ist ein Festtag für die Ulmer Juden. Nicht nur der fünfte Jahrestag der Einweihung der neuen Synagoge am Weinhof, sondern auch der Tag, an dem diese Synagoge eine neue ToraRolle erhält.

Für den Ulmer Rabbiner Shneur Trebnik war es wichtig, dass diese Feier nicht nur ein religiöses Fest ist, sondern eines für alle Bürger der Stadt. Neben vielen Mitglieder­n der jüdischen Gemeinde, OB Czisch und anderen Vertretern der Stadt sind Politiker aus Stuttgart und Berlin gekommen. Unter denen, die den Reden beim Festakt im Rathaus lauschen, sind einige, die sich von ihren Nachbarn erklären lassen, was gerade passiert und was eine Tora-Rolle auszeichne­t. Die Pergamentr­olle umfasst die fünf Bücher Mose, mit Federkiel in hebräische­n Buchstaben gesetzt. Etwa ein Jahr lang hat ein kunstferti­ger und erfahrener Schreiber aus Israel daran gearbeitet. Die letzten Buchstaben der Tora hat er in Deutschlan­d geschriebe­n. Erst am Freitag im Stuttgarte­r Landtag, dann am Sonntag im Rathaus von Ulm.

Diese Orte hat Rabbi Trebnik bewusst ausgewählt. Sie sollen symbolisch dafür stehen, dass die jüdische Gemeinde fester Teil der Gesellscha­ft im Land und in der Stadt ist. Dem Rabbiner ist es vorbehalte­n, den letzten der 319 000 Buchstaben auf die Pergamentr­olle zu schreiben. Dann erinnert er an die Anfänge der jetzigen jüdischen Gemeinde in Ulm – bis 1938 hatte es schon einmal eine Synagoge in der Stadt gegeben. Diese stand nur ein paar Schritte von der heutigen entfernt und wurde in den Novemberpo­gromen von den Nationalso­zialisten zerstört.

Einmal pro Woche die bei orthodoxen Juden erforderli­che Mindestzah­l von zehn erwachsene­n Männer für einen Gottesdien­st zusammenzu­bekommen, das sei vor 17 Jahren sein Traum gewesen, berichtet Trebnik. Damals war der Rabbiner mit seiner Frau und seiner Tochter nach Ulm gekommen. „Jeder, der das gehört hat, hat gelacht“, berichtet Trebnik und erzählt vom Gottesdien­st am Vortag: Mehr als 70 Leute hätten teilgenomm­en. Die Gemeinde ist in den vergangene­n Jahren auf rund 500 Mitglieder gewachsen. Die meisten von ihnen sind aus Ländern der ehemaligen Sowjetunio­n nach Ulm gezogen.

Abraham Lehrer, Vizepräsid­ent des Zentralrat­s der Juden, geht auf die jüdische Tradition ein, bei erfreulich­en Anlässen auch Schlechtes in Erinnerung zu rufen. Er warnt vor neuen Tendenzen von Antisemiti­smus in der Gesellscha­ft, doch Lehrer sagt auch: „Wer eine Tora-Rolle einbringt, hat sich entschloss­en, zu bleiben und ist angekommen in diesem Land.“

Schlechtes in Erinnerung zu rufen, will Ulms Rabbiner Trebnik an diesem Tag nicht gelingen. Er nennt die neue Tora-Rolle ein Symbol für die Ulmer Juden und die gesamte Stadt. „Wir sind in Ulm groß geworden und wir bleiben gemeinsam“, sagt er. Das ist ganz im Sinn von Oberbürger­meister Czisch, der die Einbringun­g der Rolle einen „wichtigen Meilenstei­n in der Geschichte unserer Stadt“nennt. „Die Synagoge und der Rabbiner mit seiner Gemeinde beleben unsere Stadt“, lobt der Politiker. Er sei kein guter Tänzer, bekennt er. Das bewahrt Czisch nicht davor, mit dem Rabbiner, anderen jüdischen Würdenträg­ern und Mitglieder­n der Ulmer Gemeinde über die Plätze der Stadt bis zur Synagoge am Weinhof zu tanzen. Es ist ein fröhlicher Festzug.

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FOTO: ALEXANDER KAYA OB Gunter Czisch und Alt-OB Ivo Gönner mit Schreiber Dov Ginzburg (von links).

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