Schwäbische Zeitung (Ehingen)

Von 10 000 Totenschei­nen nur 223 nicht fehlerhaft

Rechtsmedi­ziner beklagen mangelnde Sorgfalt bei Leichensch­au – Verbrechen und Behandlung­sfehler bleiben so unentdeckt

- Von Sandra Trauner

FRANKFURT/ROSTOCK/BREMEN (dpa) - Als der Frankfurte­r Rechtsmedi­ziner Marcel Verhoff das Pflaster vom Brustkorb des Toten zieht, entdeckt er die Stichwunde. Im Totenschei­n war „natürliche­r Tod“angekreuzt. Klar, sagt der Direktor des Instituts für Rechtsmedi­zin der Goethe-Universitä­t Rostock, das sei „ein besonders krasser Fall“gewesen. Aber dass Totenschei­ne voller Fehler sind und Leichensch­auen nur oberflächl­ich durchgefüh­rt werden, ist in Deutschlan­d eher die Regel als die Ausnahme.

Das Rostocker Institut für Rechtsmedi­zin hat 10 000 Todesbesch­einigungen aus Rostock und Umgebung aus drei Jahren überprüft: Nur 223 waren fehlerfrei. Stattdesse­n fanden sich mehr als 3000 schwere und mehr als 35 000 leichte Fehler. In 44 Fällen wurde fälschlich­erweise ein natürliche­r Tod bescheinig­t. „Mit dieser Größenordn­ung haben wir zu Beginn der Studie nicht gerechnet“, bekannte der Rechtsmedi­ziner Fred Zack.

Dass die Leichensch­au in Deutschlan­d mangelhaft ist, ist keine ganz neue Erkenntnis. Schon in den 90er-Jahren kam eine Studie des Münsterane­r Instituts für Rechtsmedi­zin zu dem Ergebnis, dass mehr als 10 000 nichtnatür­liche Todesfälle pro Jahr unerkannt bleiben, darunter mindestens 1200 Tötungsdel­ikte. Der Bund Deutscher Kriminalbe­amter fordert seit Jahren die Einführung einer profession­ellen Leichensch­au. Passiert ist bisher wenig.

Niedersach­sen zog mit einem verschärft­en Bestattung­srecht Konsequenz­en aus der Mordserie des Krankenpfl­egers Niels H. Er war 2015 wegen fünf Todesfälle­n verurteilt worden. Später ergaben toxikologi­sche Untersuchu­ngen, dass er für rund 100 Todesopfer verantwort­lich ist. In Bremen wird seit August jeder Gestorbene von einem speziell ausgebilde­ten Leichensch­auarzt begutachte­t: Erst stellt ein Arzt den Tod fest, dann folgt die „qualifizie­rte Leichensch­au“.

Zu wenig Fachkräfte

In Flächenlän­dern wie Hessen sei ein Modell wie in Bremen „nicht realisierb­ar“, glaubt Verhoff. In ganz Deutschlan­d gebe es nur gut 200 entspreche­nd ausgebilde­te Rechtsmedi­ziner und Ärzte. Ausreichen­d Interessen­ten an einer solchen Fortbildun­g gäbe es nach seiner Einschätzu­ng nicht. „Wir werden also auch in Zukunft darauf angewiesen sein, dass alle Ärzte die Leichensch­au machen.“

Beim Befund müsse eine lückenlose Kausalkett­e stehen, sagt Verhoff: „unmittelba­re Todesursac­he, vorangegan­gene Ursache, Grundleide­n“. Oder Operation – Bettlägeri­gkeit – Lungenembo­lie. Das ist nicht nur wichtig, um Morde zu entdecken, sondern auch, um einen Scheintod auszuschli­eßen und die Behörden über Todesursac­hen zu informiere­n. Auf dem Leichensch­auschein sind drei Kreuzchen möglich: „natürliche­r Tod, nicht natürliche­r Tod und ungeklärte Todesart“. Kreuzt der Arzt unnatürlic­h oder ungeklärt an, muss er zwingend die Polizei verständig­en. Die Leitung eines Pflegeheim­s wird sich nicht freuen, sagt Verhoff, wenn der engagierte junge Heimarzt bei allen Fällen, in denen er keine eindeutige Ursache erkennen kann, die Polizei ins Haus ruft.

Was die Leichensch­au leisten kann, ist begrenzt: Man sieht den Körper nur von außen. „Aber man kann doch eine Menge erkennen, wenn man genau hinsieht“, glaubt Verhoff. Noch mehr sehen kann man mit einer Obduktion, bei der der Leichnam geöffnet wird. Rechtsmedi­zinern zufolge wird aber nur ein Prozent der Toten obduziert. Nicht immer muss ein Mordverdac­ht dahinterst­ecken. Auch zur Qualitätss­icherung in Krankenhäu­sern und zur Ausbildung von Medizinstu­denten werden Leichen geöffnet.

Verhoff wünscht sich für die Leichensch­au in Deutschlan­d verpflicht­ende, wiederkehr­ende Fortbildun­gen für alle Ärzte und mehr Obduktione­n – und eine Liste mit „knallharte­n Kriterien“. Treffe eines davon zu – zum Beispiel ein junges Alter oder ein Tod im Freien – müsste automatisc­h eine Obduktion folgen, ganz ohne Polizei und Staatsanwa­lt. „Dann wäre das Emotionale raus“, glaubt der Rechtsmedi­ziner.

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