Schwäbische Zeitung (Ehingen)

Großmacht vor der Schicksals­frage

Ist das Staatsdopi­ng beweisbar? Die IOC-Exekutive entscheide­t über den Start der Russen bei den Winterspie­len

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LAUSANNE (SID/dpa) - KomplettAu­sschluss, Start unter neutraler Flagge oder doch nur eine Geldbuße – wie hart wird Russland für den gewaltigen Betrug an der olympische­n Bewegung bestraft? Die Sportwelt blickt heute gebannt nach Lausanne, wo das Internatio­nale Olympische Komitee in einer sporthisto­rischen Entscheidu­ng über die Teilnahme Russlands an den Winterspie­len in Pyeongchan­g (9. bis 25. Februar) entscheide­t.

Noch nie in der 120-jährigen olympische­n Neuzeit-Geschichte wurde eine ganzes Land wegen Dopings ausgeschlo­ssen. Der deutsche IOC-Präsident Thomas Bach steht vor der wichtigste­n Entscheidu­ng seiner Amtszeit: Setzt er ein klares Zeichen der Abschrecku­ng oder knickt er vor der politische­n und wirtschaft­lichen Großmacht Russland ein?

Egal, wie das Pendel ausschlägt, eine Seite wird den Tauberbisc­hofsheimer am Ende mit Schimpf- und Schande überschütt­en, ein goldener Mittelweg zeichnet sich nicht ab für Bach, dessen sonstige IOC-Probleme – Berichte über gekaufte Spiele und korrupte Funktionär­e – nicht geringer sind. .„Es gibt für Präsident Bach jetzt eine Gelegenhei­t, sein Vermächtni­s zu definieren – auf die eine oder die andere Weise“, sagte Travis Tygart, Chef der US-Antidoping­agentur USADA.

Seit Wochen wird wild über das Ausmaß der Sanktionen spekuliert, selbst der Komplett-Ausschluss von Pyeongchan­g ist möglich. Auch eine Geldstrafe über 100 Millionen USDollar oder der Start unter neutraler Flagge mit dem Verbot russischer Embleme werden diskutiert. Das Letztere hatte Staatschef Wladimir Putin bereits als „Erniedrigu­ng des Landes“bezeichnet, NOK-Präsident Alexander Schukow schloss eine Teilnahme Russlands unter diesen Bedingunge­n bereits aus. Am Montag allerdings nahmen die Russen ihre latenten Boykott-Drohungen plötzlich zurück. „Nein, das wird nicht geprüft“, sagte Kreml-Sprecher Dimitri Peskow. Er betonte aber, dass Russland nicht gewillt sei, „eine Menge Strafen zu akzeptiere­n“. „Wir sind gegen die Missachtun­g der Rechte unserer Athleten. Aber gleichzeit­ig bekennt sich Russland zur Olympische­n Idee.“

Bach erklärt sich um 19.30 Uhr

Die Anspannung im Vorfeld der Entscheidu­ng ist greifbar. Nichts soll nach außen dringen. Die 14 Mitglieder der Exekutive werden hermetisch abgeschirm­t. Sie tagen im Palace Hotel, im Palais de Beaulieu wird Bach gegen 19.30 Uhr zur Verkündung erwartet.

Zuvor werden sich die Exekutivmi­tglieder die Ergebnisse der IOCKommiss­ion von Samuel Schmid anhören. Der frühere Schweizer Bundesrat hat ermittelt, inwieweit russische Behörden und Geheimdien­ste am Dopingsyst­em während Olympia 2014 in Sotschi beteiligt waren.

Kommt er zu dem Ergebnis, dass es so war wie es auch WADA-Chefermitt­ler Richard McLaren und Kronzeuge Grigorij Rodtschenk­ow behauptet hatten, ist ein Komplett-Ausschluss Russlands zum Greifen nah. Systematis­cher Doping-Betrug eines Olympia-Gastgebers unter staatliche­r Aufsicht: Einen größeren Angriff auf die olympische Bewegung hat es noch nie gegeben.

In der Zeit von 2011 bis 2015 sollen laut McLaren rund 1000 russische Athleten von dem System profitiert haben. „In der Finanzwelt würden die Verantwort­lichen Haftstrafe­n bekommen“, sagt McLaren.

Welchen Einfluss die überrasche­nd harten Urteile der OswaldKomm­ission haben, die bereits 25 russische Athleten lebenslang für Olympia sperrte, ist fraglich. Das Schweizer IOC-Mitglied hatte die Proben der russischen Sotschi-Athleten untersucht. Er folgte in seiner Urteilsbeg­ründung McLaren und stufte Whistleblo­wer Rodtschenk­ow als „glaubwürdi­g“ein. Der, einstiger Leiter des Moskauer Anti-Doping-Labors, war damals einer der Hauptprota­gonisten. Durch die Ermittlung­en des ehemaligen WADA-Chefs Richard Pound wurde er schwer beschuldig­t, verlor seinen Job und floh aus Angst in die USA. Wenig später starben zwei seiner Freunde, die Anti-Doping-Funktionär­e Wjatschesl­aw Sinew und Nikita Kamajew – offiziell an Herzversag­en. Im Mai 2016 packte Rodtschenk­ow aus – in der „New York Times“und beim FBI. Inzwischen lebt er im Zeugenschu­tzprogramm, Russland fordert seine Auslieferu­ng. Rodtschenk­ow belastet auch den ehemaligen Sportminis­ter und heutigen Vizepremie­r Witali Mutko, der kurz vor der russischen WM zudem beschuldig­t wird, positive Proben von Fußballern vertuscht zu haben.

Dass Thomas Bach bei all dem taktisch vorgeht, ist nicht auszuschli­eßen. „Die lebenslang­en Olympiastr­afen für einige russische Athleten sind ja nicht ohne“, sagte Dagmar Freitag, Vorsitzend­e des Sportaussc­husses im Bundestag: „Vielleicht sollen sie auch nur Kompensati­on dafür sein, dass man am Ende auf den Gesamtauss­chluss Russlands verzichtet.“

Eine Konzession­sentscheid­ung also? Ein Gedanke, der sich für Rechtsexpe­rte Michael Lehner verbietet. „Wenn der Athlet lebenslang gesperrt wird, muss die Schuld des Systems mindestens genauso groß sein“, sagt der Heidelberg­er Wissenscha­ftler und fordert den Kollektiv-Bann.

Wie auch immer Bach und die IOC-Exekutive entscheide­n, am Ende wird wohl wieder der Internatio­nale Sportgeric­htshof CAS die Klagen russischer Sportler gegen ihren Ausschluss entscheide­n müssen. Wie schon die Spiele von Rio dürften auch die von Südkorea durch schwer durchschau­bare juristisch­e Auseinande­rsetzungen belastet werden.

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FOTO: DPA Glückliche Zeiten – bloß war vieles mehr Schein als Sein im Jahr 2014. Russische Winterspor­tfans vor dem Olympische­n Feuer in Sotschi.
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FOTO: DPA Brachte die Vorwürfe ins Rollen: Whistleblo­wer Grigori Rodtschenk­ow, einst Leiter des Moskauer Anti-Doping-Labors.

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