Der Krieg ist alles andere als vorbei
Unicef berichtet über die verzweifelte Lage der Kinder in Syrien
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BERLIN - Syrische Kinder starten jetzt in den siebten Kriegswinter. Was das bedeutet, machen in einer Pressekonferenz in Berlin UnicefVertreter eindringlich klar: Tote Kinder, hungernde Kinder, leidende Kinder. Und eine Welt, die sich langsam an das Elend in Syrien gewöhnt hat.
Geert Cappelaere, Unicef-Regionaldirektor für den Mittleren Osten, und Christian Schneider, Geschäftsführer der Unicef Deutschland, waren im November in Syrien unterwegs und schildern bei einer Pressekonferenz in Berlin ihre aktuellen Eindrücke. Ein kleiner Film zeigt die verwüsteten Trümmerlandschaften von Aleppo bis Damaskus, traurige, allein gelassene Kinder, aber auch Waisenhäuser und Notunterkünfte, in denen die Kleinen singen und tanzen und ein neues Zuhause finden.
„Resilienz“heißt das Zauberwort, es beinhaltet die wunderbare Widerstandsfähigkeit von Kindern. Sie verblüffen die Therapeuten oft, wenn sie ihre Traumata ohne Hilfe überwinden und nach vorne schauen. Von solchen Kindern berichtet auch Christian Schneider. Etwa von Fatima, 14 Jahre alt. Ihr Vater hatte sie immer gewarnt, vor die Haustür zu gehen. Und so stand sie im Türrahmen und unterhielt sich mit ihrer Freundin, die in der Haustür gegenüber stand, als eine Granate in ihr Haus einschlug und sie vor den Augen von Fatima tötete. Oder Saad, in dessen Schule Bomben fielen, die vor seinen Augen seine Lieblingslehrerin und Mitschüler töteten.
Schule als beste Therapie
Es sind Kinder, die die Hälfte ihres Lebens im Krieg verbracht haben, zwei Drittel von ihnen haben ein Familienmitglied verloren. Kinder, die dennoch Wünsche an ihr Leben haben. Fatima will die Schule nachholen, sechs Jahre hat sie verpasst. Doch nachmittags muss sie arbeiten gehen, um ihre Familie mit zu ernähren. Saad lernt, er will Arzt werden. „Die Schule ist oft die beste Therapie“, sagt Schneider.
322 Kinder wurden im ersten Halbjahr 2017 in Syrien getötet, 202 verletzt. „Und ein Ende ist nicht in Sicht“, sagt Christian Schneider. Es gebe keine Sicherheit für Kinder, „auch dort nicht, wo die Lage befriedet scheint.“Denn dort warten Mörsergranaten und Landminen auf arglos spielende Kinder. Ist unter solchen Umständen eine Rückkehr möglich? Die Innenministerkonferenz in Leipzig will am Donnerstag einen Antrag aus Sachsen und Bayern beraten, den Abschiebestopp nach Syrien zu beenden. Dabei geht es allerdings nur darum, Gefährder und Personen zurückzuschieben, die schwere Straftaten begangen haben. 4806 Syrer sind ausreisepflichtig.
Der Antrag der Länder ist sehr umstritten, weil wohl auch eine Neubewertung der Sicherheitslage – ähnlich wie im Fall Afghanistan – angestrebt wird, einige syrische Regionen als sicher auszuweisen. Sowohl Innenminister Thomas de Maizière als auch Unionsfraktionschef Volker Kauder halten eine Abschiebung nach Syrien derzeit nicht für möglich. Auch Unicef-Geschäftsführer Christian Schneider sagt: „Aus meiner persönlichen Sicht ist nicht sichergestellt, dass die Kämpfe vorbei sind.“Außerdem gebe es rund zwei Millionen Binnenvertriebene, die versorgt werden müssten. „Die würden zurückkehren, wenn die Lage sicher wäre.“
Geert Cappelaere hält die Lage in Syrien sogar für schlimmer als 2016. „Der Krieg ist alles andere als beendet.“Acht Millionen syrische Kinder seien in Not, in und außerhalb Syriens. In dem Land selbst sei die Verwüstung ungeheuer, mehr als ein Drittel der Schulen sei zerstört. Es werde Dekaden brauchen, bis die Infrastruktur wieder hergestellt sei. Vor allem aber stehe jetzt der Winter vor der Tür, im nördlichen Syrien sei er bereits da. Deshalb appelliert er an die Hilfs- und Spendenbereitschaft der Deutschen, auch in diesem Jahr nicht nachzulassen. In Nordsyrien würden dringend warme Decken, Kleidung und Öfen gebraucht. „Es besteht die Sorge, dass die Karawane weiterzieht und Syrien an Aufmerksamkeit verliert“, warnt Schneider.. Zur Kriegskatastrophe dürfe keine Winterkatastrophe hinzukommen.