Zu viele Wohnungen für Familien?
Nach Meinung eines Experten plant Ulm nicht richtig - Das könnte bald die Preise auf dem überhitzen Markt wieder drücken
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ULM - Planen die meisten Kommunen in Sachen Wohnraum weitgehend am künftigen Bedarf vorbei? „Ja“, meint der Stuttgarter Geograf Stefan Flaig, „weil sie den demografischen Wandel nicht berücksichtigen“. Der habe jedoch erhebliche Folgen für die Siedlungsentwicklung, wie er jetzt bei einer gemeinsamen Veranstaltung von Volkshochschule und dem BUND-Kreisverband im „Club Orange“deutlich machte.
Seine Forderung: Weniger Neubaugebiete ausweisen, stattdessen mehr Innenentwicklung in Städten und Gemeinden.
Flaig, Mitinhaber einer auf ökologische Fragen im weitesten Sinne spezialisierten Unternehmensberatung, arbeitet seit vielen Jahren auch für Kommunen und Ministerien, kann dadurch auf große Mengen fundierter Daten zurückgreifen. Gestützt auf diese will er deshalb nicht von „Prognosen“sprechen, sondern von „Vorausrechnungen“.
Zumindest bezogen auf den demografischen Wandel. Der werde die Entwicklung des Immobilienmarktes nachhaltig prägen, deutlich mehr als vielfach angenommen. Mit Leerständen nicht nur, aber insbesondere im Siedlungsbestand, wo sich Flaig zufolge die Belegungsdichte wegen der so genannten Altersremanenz schon nach einer Generation halbieren, eine weitere später noch mehr reduzieren wird. Eine Tendenz, die bereits zu beobachten sei.
Senioren finden keinen altersgerechten Wohnraum
Gleichzeitig würden viele der in den Siedlungen verbleibenden Senioren gerne in altersgerechte Wohnungen umziehen, fänden indes kein adäquates Angebot in Ortskernen oder Innenstädten. Zum einen aufgrund des Mangels, zum anderen, weil Erlöse älterer Immobilien zum Erwerb von Seniorenwohnungen oft nicht ausreichten.
„Die geburtenstarken Jahrgänge bestimmen die Entwicklung“, hat der 57-Jährige festgestellt. Was im Umkehrschluss freilich auch heißt: „Die Zielgruppe der bauwilligen 30bis 45-Jährigen wird stetig weniger, selbst wenn die Einwohnerzahl noch zunehmen sollte.“Als Folge des „Pillenknicks“nämlich und an der Geburtenrate seit Jahrzehnten unschwer abzulesen.
Auch die Zahl der jungen Familien sinke verglichen mit der Entwicklung der Gesamtbevölkerung schneller. Vielmehr prägen Flaig zufolge Single-Haushalte den Wohnungsmarkt. In Stuttgart etwa entfallen darauf bereits 51 Prozent.
Wohl bevölkern nach seinen Zahlen Ulm als Universitätsstadt überdurchschnittlich viele jüngere Menschen, „aber sie werden ja nicht unbedingt bleiben“. Und wenn doch, so der Experte, „dann fehlen sie auf dem Land oder in kleineren Städten“. Weshalb er annimmt: „Schon bald wird es in Ulm mehr potenzielle Familienwohnungen geben als potenzielle Nachfrage.“Sinkende Immobilienpreise seien die Folge.
Andererseits fehlten Angebote für Senioren, sozial Schwache und Studierende. „Sie werden nur am Rande bedient“, so Stefan Flaig.
Baubürgermeister meldet Widerspruch an
Allerdings wird der Immobilienmarkt im Raum Ulm auch durch weitere Faktoren speziell geprägt, wie der lebhaften Diskussion nach dem Vortrag zu entnehmen war. „Widerspruch an vielen Stellen“meldete indes nur Ulms Baubürgermeister Tim von Winning an. Hohe Wanderungsbewegungen aus anderen Teilen der Republik drücken demnach auf den Wohnungsmarkt, „stärker als die Flüchtlinge“.
Ein „schwieriges Spannungsfeld“resultierte aus dem ungewöhnlichen Verhältnis von Einwohnerzahl und Arbeitsplätzen: „Wir haben eins zu eins, normal sind zwei Drittel.“
Und von Winning unterstrich den Vorrang der Innenentwicklung, befand aber zu Neubaugebieten am Stadtrand und in den dörflich geprägten Vororten: „So lange die Gesamtkosten des Autoverkehrs solidarisiert werden, werden wir diese Siedlungsformen haben.“Nachteilig indes seien dabei überdurchschnittlich hohe Kosten für den ÖPNV und den Straßenunterhalt in Gebieten mit geringerer Bevölkerungsdichte.
Weitgehend unstrittig waren derweil Stefan Flaigs weitere Vorschläge an die Adresse der Kommunen: Die Wohnungsnachfrage junger Familien auf den Bestand zu lenken, altersgerechten Wohnraum verstärkt zu fördern und Grundstücke verstärkt im Erbbaurecht bebauen zu lassen. „Das schafft preiswerten Wohnraum“, argumentiert der Stuttgarter Fachmann, „denn die eigentlichen Baukosten sind fast überall gleich“.
Besonders wichtig aus seiner Sicht: „Die Kommunen müssen ihre Planungen nach Zielgruppen differenzieren, abgestimmt auf Familien, Senioren, Studierende und alle weiteren.“Man könne gegensteuern, ist Flaig überzeugt, der demografische Wandel sei zwar keine Katastrophe. „Aber er ist schon eine Herausforderung, der wir uns besser jetzt stellen, bevor sie uns überfällt.“