Eiskalte Geheimsache
In der Abgeschiedenheit Nordfinnlands testet ein Spezialunternehmen Automobile unter extremen winterlichen Bedingungen
Die schwere Holztür knarzt. Am Eingang hängen an Rentiergeweihen dicke Winterjacken. In der Mitte des Holzbaus in Jurtenform brennt ein großes Feuer: die Firmenkantine von Testworld. Die Holzbänke, sternförmig zur Mitte aufgestellt, sind mit Rentierfellen gepolstert, ein Dutzend Ingenieure, Informatiker und Softwareentwickler sitzen hier und schlürfen Hühnersuppe. Es ist eng und gemütlich. Draußen zeigt das Thermometer ganz andere Temperaturen, den Horizont sieht man nicht. Weiß geht über in Weiß.
Vom finnischen 4000-Einwohner-Ort Ivalo aus, vier Stunden nördlich des Polarkreises, geht es im Auto zehn Minuten durch zugeschneite, menschenleere Landschaften, bis zu dem großen Eisentor, an dem ein Wachmann Fahrzeug und Fahrer kontrolliert. Dann eine minutenlange Fahrt über das menschenleere Gelände von Testworld, einem weltführenden Kältetestunternehmen, das die Eigenschaften von Autos, Reifen und Komponenten bei Frost, Schnee, Eis prüft. Hinter ein paar Babykiefern wirbelt Schnee auf – das dazugehörige Fahrzeug sieht man nicht, es ist schon im weißen Staub verschwunden.
Vor der Kantine protzt ein Eisklotz mit den eingravierten Lettern von McLaren Mercedes. Drin mischt sich in das Knistern der brennenden Äste ein Stimmengewirr aus Englisch und Deutsch. Vielleicht Kollegen von VW, vielleicht von Audi. Für wen sie arbeiten, ist geheim. Überhaupt gibt es bei Testworld viele Geheimnisse, Fotografieren verboten, „Prototype-safe“heißt das im Testerjargon: Hier werden Fahrzeuge und Fahrzeugteile getestet, die noch nicht auf dem Markt sind, die Hersteller wollen sichergehen, dass die Prototypen bis zur Marktreife geheim bleiben. Schließlich kosten Entwicklung und Tests neuer Produkte Millionen bis Milliarden. Es stecken so viel Geld und Betriebsgeheimnisse im Geschäft, dass manche Firmen nicht einmal offen darüber sprechen, wo sie ihre Autos oder Reifen testen. Und Testworld behält das Geheimnis der Kunden freilich für sich.
Nur der Reifenhersteller Hankook zeigt sich freimütig. Im Februar hat er hier ein eigenes Testgelände eröffnet. „Die Bahn ist exklusiv, aber natürlich dürfen unsere Kunden wie Audi, BMW, Mercedes oder Porsche sie nutzen“, sagt Unternehmenssprecher Felix Kinzer. Für einen Reifen brauche man nur zwei, drei Minuten – aber Hankook testet pro Winter mehrere Tausend Sätze. Daher war Ivalo für die Entwicklung der weltweiten und europäischen Produkte erste Wahl, vor allem wegen des Wetters: „Der Klimawandel macht vor Skandinavien ja nicht halt. Konstante Bedingungen findet man eigentlich nur noch weit jenseits des Polarkreises.“Fest planen kann Hankook mit einer Testphase von Ende November bis Mitte März. Finnisch Lappland hat die längste Testsaison weltweit. „Im schwedischen Luleå hingegen, wo auch viele testen, können die Temperaturen auch auf plus sieben Grad steigen. Zudem ist ein Teil des Geländes ein See – der würde dann einbrechen.“
In Ivalo friert der Boden spätestens ab November. Den Schnee, der auf die geeiste Fläche fällt, können die Tester dann Schicht für Schicht abtragen: „Jedes Mal gibt es wieder eine perfekte Bahn“, sagt Kinzer. Und die Kollegen aus Mitteleuropa können im ganz normalen Tagesrhythmus arbeiten – anders als etwa in den Alpen, wo die Tester Nachtschichten machen müssen, weil nur dann über mehrere Stunden konstante Schneeverhältnisse herrschen, ohne die die Messergebnisse unbrauchbar wären.
Und Finnland hat noch einen großen Vorteil gegenüber den Alpenländern: „Wir haben Platz!“, sagt Janne Seurujärvi, Managing Direktor bei Testworld. Die kleinste Maßeinheit, in der die Menschen hier denken, sind Hektar. Trotzdem gibt es eine gute Infrastruktur, Laster können die abgeklebten Erlkönige transportieren. Und auf dem Flugplatz landen täglich mehrere Verbindungen aus Helsinki. Wichtig, sagt Felix Kinzer von Hankook: „Wir schicken unsere Mitarbeiter nicht länger als zwei Wochen am Stück dort hoch – das hält man als Mitteleuropäer nicht aus.“Das Leben in einem der beiden Hotels im Ort, und kein Tageslicht, monatelang. Manchmal übernachtet die Belegschaft auch eine halbe Stunde weiter im Skiort Saariselkä, dort gibt es eine beleuchtete Skipiste, einen Scooterverleih, man kann Eislochfischen gehen oder ins Fitnessstudio. Und es gibt eine Kneipe für den Feierabend. Und das ist dann schon komisch. Abends sitzt man beim Bier zusammen mit der Konkurrenz am Tresen. Man kennt sich, man tauscht sich über alles aus, nur nicht über den Beruf.
Die Automobilindustrie ist die größte der Welt, weltweit wächst die Zahl der Auto- und Reifenhersteller. Dabei werde das Thema Sicherheit immer wichtiger, sagt Janne Seurujärvi. „Die Reifen sind jetzt 50-mal sicherer als noch vor 20 Jahren.“Hinzu kommt: Die Zeitspanne von den ersten Forschungen über die Entwicklung und Tests bis zur Produktion wird immer kürzer. Immer schneller kommen immer neue Modelle auf den Markt. „Da kann man mit den Kältetests nicht monatelang warten, bis es Winter wird.“
Das gelte für das ursprüngliche Kerngeschäft der Reifentests ebenso wie für die Fahrzeugtests, die Testworld seit seinem Zusammenschluss mit Millbrook forciert. Die Mitarbeiter präparieren die Pisten, andere verpflegen die weit verstreut arbeitenden Testcrews oder warten die Fahrzeuge – und fahren sie natürlich auch.
Jouni Siltala gibt Gas, der Golf schleudert, schlittert über die 30 Meter breite Piste, kommt zum Stehen. Und weiter. Beschleunigen, bremsen. „Wir vergleichen hier auf der Schneepiste zum Beispiel neue Reifen mit alten, bewährten“, sagt der Testkoordinator. Am Ende gehe es dabei auch um das subjektive Empfinden, und da helfe vor allem die Erfahrung. Das Beste an seinem Job seien die Handling Tests: „Da kann man schön schnell fahren, um so die Unterschiede zwischen den Reifen zu finden.“
Also auch ein bisschen Spieltrieb. Was vielleicht mit an den Genen liegt. In keinem Land der Welt gibt es mehr Rally-Weltmeister. Und das, wo es doch insgesamt nur gut fünf Millionen Finnen gibt. Und Autos kamen in Finnland erst in den 1950erJahren richtig auf, die Einführung von Winterreifen in den 1960ern gab dem Autokult den ersten Schub. Viele Straßen in dem weitläufigen Land sind bis heute unbefestigt, und die Finnen kennen die nackte Fahrphysik auch sonst von klein auf: Sie sind es gewöhnt, das Auto im Grenzbereich zu bewegen, ob im Sommer auf Schotterwegen oder im Winter bei Eis und Schnee. „Jede Hausfrau muss auf einer spiegelglatten Piste zum
Supermarkt kommen“, sagt der Motorsportexperte und Journalist Markus Stier. Und der nächste Laden ist oft 15 Kilometer entfernt, der nächste Nachbar womöglich drei oder fünf. Wer nicht vereinsamen will, braucht eben ein Auto.
In Lappland ist die Einsamkeit auch ein Geschäftsmodell. Testgelände befinden sich meist dort, wo nicht so viele Leute sind oder hinwollen. Damit die Test- und Entwicklungsingenieure unbeobachtet arbeiten können. Aber auch aus Rücksicht, sagt zumindest Ulrich Herfeld, Leiter Entwicklung Gesamtfahrzeug bei Audi: „Wir wollen unseren Betrieb sozial verträglich gestalten und da umsetzen, wo wir die Umgebung nicht belästigen.“
Von solchen Aussagen halten manche Einwohner aber nicht viel – vor allem die Rentierzüchter in der Region und die Vertreter der Sami, des letzten indigenen Volks in Europa: „Neben den Bergbauaktivitäten sind es Unternehmen wie Testworld, die uns den Lebensraum nehmen und so unsere Lebensart und Traditionen gefährden“, sagt Tiina Sanila-Aikio, Präsidentin des Sami-Parlaments in Inari, eine Stunde nördlich von Ivalo.
Sanila-Aikio sorgt sich, dass noch mehr Testgelände die Rentierherden auseinandertreiben – die Nachfrage ist, trotz – und auch wegen – des Klimawandels, groß: „Klimawandel bedeutet ja nicht, dass es keinen Schnee mehr gibt“, sagt Janne Seurujärvi. „Dafür gibt es extremere Wetterphänomene, plötzliche Eisstürme oder massenhaft Schnee an Orten, an denen man es nicht gewohnt ist. Das bedeutet neue Herausforderungen für die Tests.“Und: Wenn die Temperaturen sich weiter erhöhen, werden mehr Menschen in den Norden ziehen, also auch in kälteren Regionen leben. Zudem seien nicht nur die Wintertemperaturen entscheidend, sagt Ulrich Herfeld von Audi: „Die Einparkhilfe muss auch funktionieren, wenn Schnee drauffällt, ebenso wie Fahrerassistenzsysteme, deren Infrarotsensoren durch die Witterung beeinflusst werden. Oder unsere automatische Abstandsregelung ACC (adaptive cruise control): Die hat einen Radarsensor, muss auch bei Eis und Schnee funktionieren, oder zumindest anzeigen, dass es Probleme
gibt.“Ohnehin werden alle Fahrzeuge potenziell in aller Welt verkauft – Wintertests muss also nicht nur vorweisen, wer in nordischen Ländern handelt: „Es wäre ja schlechtes Marketing zu sagen: Kaufen Sie unser Auto, aber fahren Sie es nicht in kalten Regionen“, sagt Herfeld.
Daher dürfte der Reifenhersteller Hankook nur das erste Unternehmen sein, das eigene Geländeteile für sich beansprucht. Auch das Unternehmen Testworld selbst expandiert, fürs Erste mit weiteren Hallen – denn auch hier in der Arktis wird es einmal Sommer. Rund ums Jahr surrt in der ersten Indoor-Teststrecke weltweit die Kälteanlage. Am Eingang zeigt eine rote LED-Leuchte konstante minus zehn Grad an. Der Schnee ist echt, jetzt im Winter, und meistens auch im Sommer: Testworld lagert so viel Schnee wie möglich ein: „Das ist wichtig wegen der Konsistenz“, sagt Janne Seurujärvi.
Hankook weicht im Sommer allerdings nur im Notfall auf die Hallen aus, und ansonsten nach Neuseeland, wo dann Winter ist: „In einer Halle gibt es immer Feuchtigkeit, durch die Schneekügelchen entstehen – also ganz anders als die kantigen Kristalle, die man für die Verzahnung mit dem Reifen braucht“, sagt Felix Kinzer. „Da haben wir die Natur noch nicht überlistet.“