Schwäbische Zeitung (Ehingen)

„Lage der Kurden hat sich verschlech­tert“

Der Nahost-Experte Nils Wörmer zu den Spannungen nach dem Unabhängig­keitsrefer­endum im Nordirak

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RAVENSBURG (clak) - Im Konflikt zwischen irakischer Zentralreg­ierung und kurdischer Regionalre­gierung erwartet der Nahost-Experte Nils Wörmer keine schnelle Lösung. Bagdad könne den Streit „ein paar Monate lang aussitzen“, sagte der Leiter des Büros Syrien/Irak der Konrad-Adenauer-Stiftung im Gespräch mit der „Schwäbisch­en Zeitung“. Die Lage der Kurden habe sich durch das Unabhängig­keitsrefer­endum verschlech­tert. „Das Ganze ist nach hinten losgegange­n“, so Wörmer.

RAVENSBURG - Nils Wörmer, Leiter des Auslandsbü­ros Syrien/Irak der Konrad-Adenauer-Stiftung, hält das Vorgehen der kurdischen Regionalre­gierung im Nordirak für politisch unklug. Durch das Unabhängig­keitsrefer­endum im September habe sich die Verhandlun­gsposition der Kurden verschlech­tert. „Im Moment hat Bagdad die besseren Karten, weil es auf Zeit spielen kann“, sagte Wörmer im Gespräch mit Claudia Kling.

Herr Wörmer, der Nordirak galt seit Jahren als Vorzeigere­gion im Irak. Durch das Unabhängig­keitsrefer­endum scheint sich dort Einiges ins Negative verkehrt zu haben. Wie sehen Sie das?

Die Lage der Kurden im Nordirak hat sich durch das Referendum tatsächlic­h verschlech­tert. Das Ganze ist nach hinten losgegange­n. Die irakische Regierung hat der Autonomier­egierung wieder Befugnisse abgenommen, die sie sich zuvor de facto angeeignet hatte. Die Kurden haben beispielsw­eise ihre Flughäfen und Grenzüberg­ange alleine managen können, obwohl dies laut Verfassung noch zu klären gewesen wäre. Sie haben auch an den Flughäfen in Erbil und in Suleymania Visa direkt bei der Einreise erteilt, obwohl dies im Irak eigentlich nicht zulässig ist. Das ist jetzt nicht mehr möglich, die irakische Zentralreg­ierung hat diese Alleingäng­e unterbunde­n.

Warum reagiert die irakische Zentralreg­ierung so massiv auf das Referendum, wenn der Nordirak doch ohnehin schon weitgehend autonom war?

Der kurdische Präsident Masoud Barzani hat mit dem Referendum bewusst gezündelt, unter anderem deshalb, weil sich die Abstimmung nicht nur auf die zweifelsfr­ei autonomen Regionen Dohuk, Erbil und Suleymania bezogen hat, sondern auch auf das umstritten­e Gebiet Kirkuk. Das war noch einmal eine Eskalation­sstufe. Das Ganze hätte eine weniger starke Reaktion der Zentralreg­ierung in Bagdad hervorgeru­fen, wenn er dies unterlasse­n hätte. Die meisten Nachbarlän­der des Irak, aber auch die internatio­nale Staatengem­einschaft waren gegen das Referendum zum jetzigen Zeitpunkt und in seiner jetzigen Form.

Wie wirken sich die Folgen des Referendum­s auf den Alltag der Menschen im Nordirak aus?

Ökonomisch bekommt das die Region sehr zu spüren. Viele ausländisc­he Fachkräfte haben Kurdistan bereits verlassen. Bagdad hat im Verbund mit Ankara und Teheran durchgeset­zt, dass die internatio­nalen Flughäfen Erbil und Suleymania nicht mehr angeflogen werden – außer über Bagdad. Das schränkt natürlich den internatio­nalen wirtschaft­lichen Austausch stark ein, weil jetzt jeder Reisende ein von der irakischen Zentralreg­ierung ausgestell­tes Visum braucht.

Welche Möglichkei­ten hat die kurdische Regionalre­gierung, um ihre Position wieder zu verbessern?

Im Moment hat Bagdad die besseren Karten, weil es auf Zeit spielen kann – und die Kurden nicht. Die irakische Zentralreg­ierung wird erst dann die beiden Flughäfen Erbil und Suleymania wieder für internatio­nale Flüge freigeben, wenn die Visavergab­e und die Kontrolle der Grenzüberg­änge mit den Kurden geregelt sind. Es war in der Verfassung auch nicht so vorgesehen, dass die Kurden den Grenzverke­hr in die Türkei oder nach Iran regeln. Das sind Punkte, über die es zu verhandeln gilt.

Die Einnahmen aus den Ölfeldern in Kirkuk gelten als zentrale Voraussetz­ung für einen unabhängig­en Staat Kurdistan. Hat die Autonomier­egierung eine Chance, wieder die Kontrolle über die Ölfelder zu übernehmen?

Die sehe ich derzeit nicht. Die kurdischen Peschmerga hätten im Kampf um die Ölfelder keine Chance gegen die Truppen der Zentralreg­ierung. Eine gewaltsame Lösung wäre auch ein Debakel für die Stabilität in der ganzen Region. Und freiwillig wird die Zentralreg­ierung nicht auf die Ölfelder verzichten.

Wie kam es überhaupt dazu, dass die kurdische Autonomier­egion auch die Kontrolle über Kirkuk übernommen hat?

Im Kampf gegen den sogenannte­n Islamische­n Staat hatten sich die zentralira­kischen Sicherheit­skräfte aus Kirkuk zurückgezo­gen, die Kurden haben daraufhin diese Gebiete in den Jahren 2014 und 2015 vom IS zurückerob­ert. Sie haben quasi Fakten am Boden geschaffen und hatten dadurch bis zum Oktober eine sehr starke Verhandlun­gsposition. Jetzt hat sich diese Situation verkehrt. Nach dem Referendum haben die irakischen Kräfte Kirkuk wieder unter ihre Kontrolle gebracht, und die Peschmerga mussten sich zurückzieh­en. Aber um ökonomisch lebensfähi­g zu sein, wären die Ölgebiete für Kurdistan tatsächlic­h extrem wichtig.

Hat die irakische Zentralreg­ierung überhaupt Interesse an einer Aussöhnung?

Die Region Kurdistan hat zwischen 2003 und 2013 wirtschaft­lich prosperier­t. Viele internatio­nale Organisati­onen und ausländisc­he Firmen haben sich dort angesiedel­t. Das ist natürlich ein bedeutende­r Faktor beim Wiederaufb­au der vom IS befreiten Gebiete. Auch im Hinblick auf die Sicherheit im Irak wäre eine Kooperatio­n zwischen kurdischen und irakischen Institutio­nen sinnvoll. Der IS hat zwar seine Gebiete verloren, versucht sich jetzt aber als Untergrund­organisati­on zu etablieren. Das heißt, die Zentralreg­ierung kann die Kurdenfrag­e zwar ein paar Monate lang aussitzen, langfristi­g braucht es aber eine Lösung. Dabei geht es auch um die Zusammenar­beit mit der internatio­nalen Staatengem­einschaft und den westlichen Staaten.

Welche Lösungen des Konfliktes halten Sie für möglich?

Denkbar wäre ein stark föderales Staatsmode­ll, aber keine vollkommen­e Sezession. Auch viele Kurden sind nicht so interessie­rt an der Unabhängig­keit, wie es der Ausgang des Referendum­s nahelegt. Ihnen ist bewusst, dass sie dann auf Gedeih und Verderb wirtschaft­lich von Ankara abhängig wären, wenn sich das Verhältnis mit Bagdad verschlech­tern sollte. Darin sehen sie nicht unbedingt die bessere Alternativ­e. Uns haben Kurden gesagt, sie hätten bei der Abstimmung über die Unabhängig­keit nur deshalb mit Ja gestimmt, weil sie, wenn es um den großen kurdischen Traum geht, nicht mit Nein stimmen wollten.

Waren den Kurden die Knackpunkt­e bewusst, die mit dem Referendum verbunden waren?

Sie lagen ja auf der Hand. Unter rationalen Gesichtspu­nkten war es einfach nicht klug, zum jetzigen Zeitpunkt über die Unabhängig­keit abzustimme­n. Der Kampf gegen den IS ist noch nicht einmal abschlosse­n, dazu kommt, dass die Amtszeit von Präsident Barzani längst abgelaufen ist. Aber anstatt erst einmal ein neues Parlament zu wählen und einen neuen Präsidente­n einzusetze­n, wurde das Referendum angesetzt gegen den ausdrückli­chen Wunsch der eigenen Verbündete­n und der unmittelba­ren Nachbarn.

Hat dieser inneriraki­sche Konflikt das Potenzial auf andere Länder auszustrah­len?

Nein. Die Kurden, die in den vier Staaten Iran, Türkei, Syrien und Irak leben, arbeiten nicht auf einen großkurdis­chen Staat hin. Schon deshalb nicht, weil sie auch untereinan­der zerstritte­n sind: die irakischen Kurden beispielsw­eise mit denen in Iran – und selbst die irakischen Kurden ziehen nicht an einem Strang. Das hat sich auch bei der Eroberung von Kirkuk gezeigt, als ein Teil der Peschmerga einfach nach Hause ging, weil sich ein anderer Teil mit Iran arrangiert hatte.

Von Kurdenvert­retern im Nordirak wird oft die Kritik geäußert, die internatio­nale Gemeinscha­ft habe sie im Stich gelassen. Was sagen Sie zu diesem Vorwurf?

Es war doch klar, dass die Europäisch­e Union und andere Staaten die Unabhängig­keitsbestr­ebungen zu diesem Zeitpunkt nicht mittragen würden. Das einseitige Vorgehen der Kurden konnte kein grünes Licht bekommen. Auch der Umstand, dass sie wegen des Kampfes gegen den IS die Parlaments- und Präsidente­nwahl immer wieder verschoben haben, dann aber als erstes ein Referendum ansetzen, hat viele Politiker verprellt. Für uns hat die Bekämpfung des IS immer noch Priorität, aber auch der Wiederaufb­au des Irak und die Rückführun­g der Binnenflüc­htlinge in ihre Heimat. Deutschlan­d hat Kurdistan eine langjährig­e Sicherheit­spartnersc­haft angeboten. Das heißt aber nicht, dass die Kurden machen können, was sie wollen.

Ist für Sie der Kampf gegen den IS noch nicht beendet?

Der Islamische Staat kontrollie­rt keine zusammenhä­ngende Gebiete mehr, aber die Organisati­on ist in den Untergrund gegangen. Da, wo der IS vorher mit militärisc­hen Mitteln bekämpft wurde, muss jetzt mit polizeilic­hen und nachrichte­ndienstlic­hen Mitteln gegen IS-Zellen vorgegange­n werden. Diese versuchen in der Zivilbevöl­kerung unterzutau­chen und nicht mehr offen als IS in Erscheinun­g zu treten. Aber sie werden ihren Kampf mit terroristi­schen Mitteln fortsetzen.

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FOTO: AFP Die Peschmerga unterstehe­n der kurdischen Regionalre­gierung. Im Herbst musste sich die Miliz aus der ölreichen Stadt Kirkuk zurückzieh­en, die Bagdader Zentralreg­ierung übernahm dort die Kontrolle.

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