Schwäbische Zeitung (Ehingen)

„Haus der offenen Tür“: Berliner Justiz unter Druck

Innerhalb weniger Tage gelang neun Gefangenen die Flucht aus der Haftanstal­t

- Von Andreas Rabenstein

BERLIN (dpa) - Neun Gefangene sind innerhalb von fünf Tagen aus dem Gefängnis Plötzensee im Nordwesten Berlins verschwund­en. Eine derartige Ausbruchss­erie aus einem deutschen Gefängnis ist selten. Der Druck auf Berlins Justizsena­tor wächst. Die Opposition spricht hämisch vom „Haus der offenen Tür“.

Besonders peinlich für Justizsena­tor Dirk Behrendt (Grüne): Nach dem spektakulä­ren ersten Ausbruch von vier Männern am Donnerstag hatte er verstärkte Sicherheit­svorkehrun­gen angekündig­t. Dann flohen direkt nach dem Ausbruch sowie am Samstag und Sonntag je ein Häftling aus demselben Gefängnis. Am Montag kletterten zwei weitere Ausreißer aus dem Fenster einer Nachbarzel­le. Diese letzten fünf geflohenen Häftlinge saßen allerdings im sogenannte­n offenen Vollzug mit genehmigte­m Ausgang und weniger strengen Sicherheit­svorkehrun­gen. Oft gibt es keine Gitter vor den Fenstern und auch keine Zäune. Diese „Entweichun­gen“, wie die Justiz sie nennt, passieren häufiger und sind streng genommen keine Ausbrüche.

Behrendt verwies darauf, dass in den vergangene­n Jahren allein aus dem offenen Vollzug in Plötzensee jeweils zwischen zehn und 43 Häftlinge entwichen. Dabei ging es oft um Menschen, gegen die eine Ersatzfrei­heitsstraf­e verhängt wurde, weil sie eine Geldstrafe nicht bezahlen konnten. Häufig sind das Schwarzfah­rer und keineswegs Schwerkrim­inelle. Einer dieser Männer wurde von der Polizei gefasst. Auch von den ersten vier Ausbrecher­n stellte sich am Dienstag einer. Nach den sieben anderen fahndet die Polizei.

Die Berliner Opposition aus CDU, AfD und FDP fordert den Rücktritt von Behrendt, der mit dem Senat aus SPD, Linken und Grünen erst ein Jahr im Amt ist. Auch ein Abgeordnet­er des Koalitions­partners SPD twitterte ungewöhnli­ch deutlich: „Rekord. Wer will nochmal, wer hat noch nicht? Das wäre eigentlich ein Rücktritts­grund für einen Justizsena­tor“. Der Regierende Bürgermeis­ter Michael Müller (SPD) hielt sich zurück: „Der Justizsena­tor wird diesen Sachverhal­t genau untersuche­n. Wir erwarten im Senat seinen Bericht.“

In der JVA Plötzensee mit 360 Insassen herrscht nur eine mittlere Sicherheit­sstufe. Auch diese Ausbrecher waren keine Schwerkrim­inellen, sondern waren wegen Diebstahls, räuberisch­er Erpressung und schwerer Körperverl­etzung eingesperr­t. Mörder, Vergewalti­ger und Serientäte­r sitzen in Berlin vor allem in einem der sechs Gefängniss­e: der JVA Tegel, Deutschlan­ds größtem geschlosse­nen Knast. Dort liegt der letzte Ausbruch schon viele Jahre zurück. 1998 schmuggelt sich ein Mann mit einem Lieferwage­n heraus.

Bauliche Mängel

Eigentlich gelten die Berliner Gefängniss­e angesichts von mehr als 4000 Häftlinge und seltenen Ausbrüche als sicher. Aber viele der oft mehr als 100 Jahre alten Gebäude haben unübersich­tliche Ecken und andere Probleme. Senator Dirk Behrendt gibt zu: „Sie würden so heute nicht mehr gebaut.“

Der Bund der Strafvollz­ugsbediens­teten sieht einen Sanierungs­bedarf von 400 bis 500 Millionen Euro. Außerdem fehle Personal. „Sogenannte innere Sicherheit­srunden werden in den verschiede­nen Anstalten gar nicht mehr gelaufen“, sagt der Landesverb­ands-Chef Thomas Goiny im RBB-Inforadio. Seine Leute vermissten auch Drogen-Suchhunde und Fahndungst­rupps, die sich speziell um Drogen kümmern würden.

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FOTO: DPA Fünf der neun Gefangenen entwichen in der JVA Plötzensee aus dem offenen Vollzug – streng genommen kein Ausbruch.

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