DER LANGE SCHATTEN DER KOLONIALZEIT
Herero klagen in New York – Die afrikanische Volksgruppe fordert Entschädigung für den Völkermord während der deutschen Kolonialzeit in Namibia
Herero-Vertreter verklagen Deutschland
Passanten bleiben stehen, um nach ihren Handykameras zu greifen, trotz des eisigen Winds, der die Leute zur Eile treibt. Mit allem würde man rechnen auf dem zugigen Platz vorm Daniel Patrick Moynihan Courthouse im Süden Manhattans, aber kaum damit, vier Männer in olivgrünen ParadeUniformen gut gelaunt im Gleichschritt übers Pflaster marschieren zu sehen. Ein Fünfter ruft ihnen mit dröhnendem Bariton Kommandos zu, mal schneidend, mal eher feixend. Die Frauen, die das Quartett mit schrillem Trällern anfeuern, tragen Bolero-Oberteile mit Goldbordüren, dazu bodenlange Faltenröcke in Rot, Weiß oder Grün und merkwürdige Hüte. Bald stellt sich ein schwergewichtiger Mann in erdbeerroter Uniform auf die breite Treppe vor dem Gerichtsgebäude. Mit goldfarbenen Tressen und goldfarbenen Streifen an den Hosen lässt er an einen General denken. „Wir haben gerade einen bedeutsamen Sieg errungen“, verkündet Vekuii Rukoro voller Stolz.
Ein Wintervormittag in New York, strahlend blauer Himmel bei klirrender Kälte. Rukoro, 63 Jahre alt, ist der Paramount Chief, Oberhäuptling des Herero-Volkes. Nach der Unabhängigkeit Namibias im Jahr 1990 wurde er Justizminister, später wechselte er in die Privatwirtschaft, heute zieht er vor Gericht, um gegen die Bundesrepublik Deutschland zu klagen. Rukoro fordert Entschädigung für einen Völkermord, verbunden mit einer offiziellen Entschuldigung. Er sagt, dass die Bundesrepublik Deutschland einem schweren Irrtum aufsitze. „Sie glauben, sie könnten das allein mit der Regierung Namibias ausmachen, ohne uns beachten zu müssen. Sie glauben, weil sie eine große Macht sind, könnten sie es uns einfach so in den Rachen stopfen.“
Manche im Pulk des Paramount Chief sind von weither angereist, aus Botswana, Südafrika, Großbritannien. Und das nur, um für eine Viertelstunde im Saal 17C zu sitzen, wo die Richterin Laura Swain im Grunde nicht mehr tut, als ein paar Formalien zu klären. Die Prozedur zieht
sich hin, seit dem 5. Januar 2017, als die Klage eingereicht wurde. Seither versammeln sich Vertreter der Herero und der Nama, zweier afrikanischer Volksgruppen, alle drei, vier Monate im Saal 17C. Zum Vorgeplänkel, wenn man so will.
Neu ist diesmal, dass sich Deutschland durch einen Anwalt vertreten lässt. Jeffrey Harris, ein älterer Herr mit schütterem Haar, ist aus Washington gekommen, um Laura Swain wissen zu lassen, dass seine Mandantin es nach wie vor nicht für gerechtfertigt hält, dieses Verfahren auf amerikanischem Boden. Wegen des Prinzips der Staatenimmunität sei ein New Yorker Gericht nicht befugt, über die „Rechtmäßigkeit staatlicher Hoheitsakte“zu befinden, argumentiert man in Berlin. Doch allein Harris’ Anwesenheit signalisiert, dass die Räder ins Rollen kommen. So sieht es jedenfalls Vekuii Rukoro, weshalb er von einem wichtigen Etappensieg spricht. Denn lange hatte sich das Auswärtige Amt geweigert, die Klageschrift auch nur entgegenzunehmen. Erst nachdem die USBotschaft in Berlin das Schreiben zustellte und auf amerikanische Rechtsvorschriften verwies, nach denen ein Antragsgegner ein Urteil zu seinen Ungunsten riskiert, falls er nicht binnen sechzig Tagen antwortet, schickte die Bundesregierung einen Advokaten in den Saal 17C. „Deutschland“, sagt Kenneth McCallion, der Anwalt der Kläger, „hat hoffentlich begriffen, dass es den Forderungen der Herero und Nama nicht einfach aus dem Weg gehen kann“.
Deutschland, sagt Barnabas Veraa Katuuo, stelle ihn vor ein Rätsel. Dort sei man doch sonst so stolz auf die schonungslose Offenheit, mit der man über dunkle Kapitel der Vergangenheit rede. Warum also dieses Abwiegeln gegenüber seinem Volk? Für den hochgewachsenen Ex-Sportler gibt es nur eine Erklärung: „Weil wir schwarz sind“.
Katuuo ist neben Rukoro und Johannes Isaac, dem Häuptling der Nama, der dritte Kläger – die treibende Kraft des Verfahrens. Bis 1979 lebte er in Windhuk, wo er unter anderem leidenschaftlich Fußball spielte, erst für die Hungry Lions, zweite Liga, dann für die African Stars, einen Spitzenclub. Als er gegen die Apartheid demonstrierte, wurde er von knüppelnden Polizisten brutal verprügelt. Und als die Vereinten Nationen Namibia auf seine Unabhängigkeit von Südafrika vorzubereiten begannen und Kandidaten ein Stipendium vermittelten, stand auch sein Name auf der Liste. Katuuo kam nach New York, studierte Architektur, in Bibliotheken fand er auch Dokumente, die belegten, was er in Windhuk von Eltern und Großeltern gehört hatte. Schockierende Geschichten, sie handelten vom Massenmord an den Hereros. Von Greisen und halb Verhungerten, die auf der Flucht vor den deutschen Soldaten nicht mithielten und zurückgelassen wurden. Vom Weideland, das sich die Siedler der Kolonialmacht aneigneten und das bis heute deren Nachkommen gehört. „Es war verblüffend für mich“, erinnert sich Katuuo. „Was mir meine Vorfahren erzählt hatten, manchmal wie durch einen Nebel, stand glasklar in diesen Büchern. Mancher Name war seltsam geschrieben, doch sonst war es nahezu identisch.“
Dass Katuuo amerikanischer Staatsbürger wurde, statt nach Windhuk zurückzukehren, hat auch damit zu tun, dass die Hereros dort nichts zu bestellen haben. Im Kabinett geben die Ovambo den Ton an, die größte Bevölkerungsgruppe, auf die sich die SWAPO stützt, die einstige Befreiungsbewegung, die heute das Land regiert. Die wiederum, glaubt Barnabas Katuuo, habe mit Berlin eine stille Abmachung getroffen: Die Deutschen leisten Entwicklungshilfe, Namibia sorgt dafür, dass die Herero den Genozid nicht zur Sprache bringen. Gewiss, schiebt er hinterher, beweisen könne er nichts, aber in seinen Ohren klinge es ziemlich plausibel. In Namibia, glaubt er, hätten die Herero gar nicht erst vor Gericht ziehen können. Bleibe New York als einzig realistische Alternative, „außerdem haben wir in New York diesen erfahrenen Anwalt gefunden“.
McCallion, ein Veteran mit schlohweißem Haar, hat schon Opfer der Explosion der Chemiefabrik im indischen Bhopal vertreten. Zu seinen Klienten gehörten Überlebende des Holocaust, deren Guthaben sich französische Banken angeeignet hatten, ebenso wie die Ureinwohner, die 1989 durch die Havarie des Öltankers Exxon Valdez vor der Küste Alaskas geschädigt wurden. Und ehemalige Zwangsarbeiter, die Deutschland und deutsche Unternehmen auf Entschädigung verklagten. Vor zwei Jahren, bei einer Veranstaltung unter dem Titel „From Africa to Auschwitz“, erläuterte McCallion einem interessierten Publikum in der Nähe New Yorks, warum er in den Konzentrationslagern Südwestafrikas Vorläufer für die Vernichtungslager der Nationalsozialisten sieht. „Ich glaube, dass die (Herero-)Nation als solche ausgelöscht werden muss, oder, falls das mit taktischen Mitteln nicht möglich ist, vertrieben werden muss“, zitiert er in seiner Klagebegründung den kaiserlichen General Lothar von Trotha.
Von Afrika nach Auschwitz
1904 reagierten die Herero mit einer Erhebung auf Pläne von Gouverneur Theodor Leutwein, ihr Land in großem Stil deutschen Siedlern zuzuschanzen. Auslöser war die Morddrohung eines Oberleutnants gegen Samuel Maharero, den Oberhäuptling ihres Volkes. Um die Rebellion niederzuschlagen, wurde von Trotha in die Kolonie beordert, ein Generalleutnant, der zuvor in Deutsch-Ostafrika und beim „Boxeraufstand“in China Erfahrungen bei der Bekämpfung Aufständischer gesammelt hatte. Im August 1904 besiegelte seine „Schutztruppe“am Waterberg das Schicksal der eingekesselten Hereros. Die Überlebenden, Männer, Frauen und Kinder, wurden in die Wüste Omaheke getrieben, wo die meisten verdursteten oder verhungerten. Den Feind, so vermerkte es später der Große Generalstab des Kaiserreichs, scheuchte man „wie ein halb zu Tode gehetztes Wild von Wasserstelle zu Wasserstelle, bis er schließlich willenlos ein Opfer der Natur seines eigenen Landes wurde. Die wasserlose Omaheke sollte vollenden, was die deutschen Waffen begonnen hatten: die Vernichtung des Herero-Volkes.“
Von Afrika nach Auschwitz: McCallion hat die Linie in seiner Klageschrift scharf nachgezogen. Deutsche Ärzte, führt er an, hätten Gefangenen in den Lagern Namibias giftige Substanzen in Venen gespritzt, etwa Arsen, wenn sie an Vitaminmangel litten. An deutschen Instituten habe man mit den sterblichen Überresten getöteter Herero experimentiert. Einer der Mediziner, Eugen Fischer, unterrichtete Otmar Freiherr vom Verschuer, der seinerseits einen prominenten Schüler hatte: Josef Mengele, den Lagerarzt von Auschwitz.
Deutschland, ruft Vekuii Rukoro vor dem Gerichtsgebäude, habe die Rechnung ohne die Herero gemacht. Er strafft sich, überlegt kurz, bevor er sagt: „Hier sind wir. Und wir bleiben, bis uns die Deutschen direkt in die Augen schauen. Bis sie uns endlich ernst nehmen.“Der nächste Gerichtstermin ist am 3. Mai.