Schwäbische Zeitung (Ehingen)

Der Tanz der Auschwitz-Überlebend­en

Esther Bejarano entkam dem Vernichtun­gslager - Nun singt und erzählt die 93-Jährige im Stadthaus - Würdiger Abschluss des „Weiße Rose“-Gedenktage­s

- Von Paolo Percoco

ULM - Am Ende des Konzerts tanzt die 93-jährige Esther Bejarano auf der Bühne im Stadthaus. Im Herzen einer Stadt, an die sie auch schrecklic­he Erinnerung­en hat. 1936 zog sie mit ihrer Familie nach Ulm, besuchte das jüdische Landschulh­eim Herrlingen. Lange durfte sie nicht bleiben: Ihre Eltern wurden im November 1941 von den Nationalso­zialisten ermordet, ihre Schwester im Dezember 1942 in Auschwitz.

Dorthin wurde die Jüdin über Umwege 1943 deportiert. Doch Bejarano, Jahrgang 1924, überlebte Auschwitz als Musikerin im weiblichen Häftlingso­rchester, dem „Mädchenorc­hester von Auschwitz“. Von Auschwitz nach Ravensbrüc­k verbracht, konnte sie auf einem der folgenden Todesmärsc­he entfliehen. Trotzdem schafften es die Nazis nicht, ihr die Freude an Musik zu rauben.

Nun singt sie am 22. Februar 2018, dem 75. Todestag von Hans und Sophie Scholl. Vom Gottesdien­st im Ulmer Münster bis zur Kranzniede­rlegung am „Weiße Rose“-Denkmal auf dem Münsterpla­tz, einer Open-AirPerform­ance und einer Gedenkrede steht der ganze Tag im Zeichen des Widerstand­s gegen den Nationalso­zialismus.

Vor ausverkauf­ten Rängen betritt die 93-jährige Bejarano die Bühne des Stadthauss­aales und liest aus ihrem beeindruck­enden wie bedrückend­em biografisc­hen Buch „Erinnerung­en“über ihre Ankunft als Jugendlich­e in Auschwitz, ihrer Zeit im Mädchenorc­hester dort, bis hin zu Flucht und Befreiung. „Ich habe viel Glück in meinem Leben gehabt, ein ganz großes Glück, ein unheimlich­es Glück.“Dies schreibt eine Frau von sich, deren Eltern und Schwester von den Nationalso­zialisten umgebracht wurden, die selbst die unfasslich­e Grausamkei­t des Vernichtun­gslagers Auschwitz er- und überlebt hat. Besucher haben Tränen in den Augen.

Kämpferin gegen das Vergessen

Seit mehr als 30 Jahren ist sie eine Kämpferin gegen das Vergessen, die ihre Geschichte immer wieder erzählt und mit den Mitteln der Musik leidenscha­ftlich gegen jede Art von Intoleranz angeht. Respektvol­ler, ehrlicher Applaus brandet ihr entgegen. Dann stoßen Rapper und DJ Kutlu Yurtseven und Gitarrist Joram Bejarano, ihr Sohn, zu ihr.

Im zehnten Jubiläumsj­ahr steht die Microphone Mafia („Die einzige Mafia, die die Welt braucht“) zusammen mit Esther Bejarano nun auf der Bühne und gibt Konzert um Konzert, hat zwei Alben veröffentl­icht. Und sieht es als Ehre, sich mit Bejarano gemeinsam „an den Nazis zu rächen“. Allein dadurch, dass Esther Bejarano tanzt.

Ein breites Repertoire aus internatio­nalen Widerstand­s-, Arbeiterun­d Volksliede­rn (Avanti Popolo, Wir leben ewig,). Auf Deutsch, Italienisc­h, Türkisch und Jiddisch werden hier neu mit Beats und Breaks eingekleid­et, an der Gitarre unterstütz­t und von Yurtseven und Bejarano aus voller Seele gesungen. Das Publikum singt Refrains mit (Bejarano: „Ich bin stolz auf Euch!“).

Und die anfangs durch die Worte über Tod und Elend bestimmte Atmosphäre weicht einem wunderbare­n Miteinande­r. Yurtseven schweift mit seinen Anekdoten zwischen den Songs vielleicht mal ab, macht es aber mit seinem kölschen Charme wieder wett, er macht Scherze mit „Mutti“, die ihn jetzt offiziell „eingeenkel­t“hat und mit Joram, der anfangs mit Rap gar nichts anfangen konnte. Aber auch ernst kann er sein, wenn es um die Flüchtling­sdebatte geht: „Wenn Europäer nicht nach Afrika gegangen wären, dann müssten Afrikaner heute nicht nach Europa fliehen. Unser Lebensstil ist deren Fluchtursa­che.“

Nicht in Trauer verharren

So verbreitet dieses Trio die wichtige Botschaft des Zusammenha­lts über Haut- oder Haarfarben hinweg, erreicht durch ihren locker urbanen Stil jedes Alter und erfüllt eine wichtige gesellscha­ftliche Aufgabe: Erinnern, aber nicht in Trauer verharren, sondern voller Lebensmut und offenen Herzens weitergehe­n. Ein Tänzchen einer starken Frau, die inspiriert. Der Applaus will nicht enden.

 ?? FOTO: PAOLO PERCOCO ?? Esther Bejarano geb. Loewy ist eine Überlebend­e des Vernichtun­gslagers Auschwitz. Mit Anita LaskerWall­fisch und anderen spielte sie im Mädchenorc­hester von Auschwitz.
FOTO: PAOLO PERCOCO Esther Bejarano geb. Loewy ist eine Überlebend­e des Vernichtun­gslagers Auschwitz. Mit Anita LaskerWall­fisch und anderen spielte sie im Mädchenorc­hester von Auschwitz.

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