Der höchste Kühlschrank der Welt
Die Baumeister fürchten bei Tauwetter um die Steinsubstanz des Münsters
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ULM - Der Atem kondensiert sofort beim Eintritt in die mächtige Turmhalle. Null Grad zeigt dieser Tage das Thermometer im Inneren des Ulmer Münsters. Nachts auch manchmal drunter, wie Ernst-Wilhelm Gohl weiß. „Wenn wir Weihwasser hätten, würde es gefrieren“, sagt der Dekan. Dank Wintermänteln, warmer Decken und Sitzpolstern frierten die meisten Besucher allerdings nicht.
Ganz im Gegensatz zu den Pfarrern: „Wir tragen ja nur Talare“, sagt Gohl. Doch der Dekan weiß sich zu helfen: „Zum Glück gibt’s ja Skiunterwäsche.“Nur Handschuhe trägt er nicht. Das sähe bei Gottesdiensten dann doch seltsam aus. Eine Herausforderung sei bei diesen klirrenden Temperaturen auch das Abendmahl, wenn der metallene Kelch fast an den Lippen gefriere.
Wärmequellen gibt’s nicht wirklich unterhalb des höchsten Kirchturms der Welt. Eine unter Kirchenbänken installierte Heizung werde nur an den großen Feiertagen wie Weihnachten angemacht. Und habe ohnehin nur sehr beschränkte Wirkung.
Die Wolken kondensierter Atemluft der Münsterbesucher verweisen auf ein Dauerproblem im Mittelalterbau: Exakt 992 544 Menschen betraten im vergangenen Jahr das Ulmer Münster. Und jeder bringt Feuchtigkeit mit. Bei 70 Prozent liegt derzeit die Luftfeuchtigkeit. Bei 80 Prozent fühlt sich Schimmel besonders wohl. „Zum Glück haben wir dafür die Julius-Rohm-Stiftung“, sagt Gohl. Seit 2009 kümmert sich die Stiftung um die Restaurierung der wertvollen Innenausstattung im Ulmer Münster, darunter wertvolle Altäre und Tafelgemälde von Meistern der Ulmer Schule, die unter Feuchtigkeit besonders leiden.
Die Orgel verrichte auch bei Temperaturen um den Gefrierpunkt zuverlässig ihren Dienst. Bei den Blechbläsern drohen allerdings die Klappen zu gefrieren. Auf den Klang von Klarinetten oder Flöten müssen die Gottesdienstbesucher im Winter verzichten. Bei Temperaturen unter zehn Grad können Risse in den Instrumenten der Holzbläser entstehen. Deswegen, so Gohl, finde auch das Karfreitagskonzert in der wärmeren Pauluskirche statt.
Rutschalarm in luftiger Höhe
Während es im Inneren des Münsters mit null Grad fast mollig warm ist, pfeift derzeit der Wind Turmbesteigern bei zweistelligen Minustemperaturen eisig um die Ohren. Seit fast drei Wochen endet der Aufstieg der 768 Stufen auf den 161 Meter hohen Turm allerdings bei 70 Metern. Rutschalarm! Eine dicke Eisschicht auf den Stufen macht den Endspurt auf die auf 143 Meter gelegene oberste Aussichtsplattform zu gefährlich. Sämtliche Arbeiten am Bauwerkäußeren ruhen seit November. „Sobald der erste Frost einsetzt, macht es keinen Sinn mehr“, sagt Münsterbaumeister Michael Hilbert. Denn wenn die Temperaturen unter null fallen, würde der Mörtel aus Sand, Wasser und Bindemittel nicht mehr fest.
Grundsätzlich sei der Frost-TauWechsel seit Fertigstellung des noch turmspitzenlosen Münsters 1543 stressig für das Bauwerk. Erst setzt sich Eis und Schnee am Münster fest, was, wenn es wärmer wird, als Wasser in den Stein eindringt. Wenn dann wieder Frost ansteht, drohen Teile des Steins abgesprengt zu werden. Alle Jahre wieder. In den vergangenen Jahren mussten wegen potenzieller Steinschlaggefahr mehrfach Teile des Münsterplatzes gesperrt werden.
Vermutlich erst im März, wenn keine Minus-Grade mehr zu befürchten sind, geht die Arbeit am Hauptturm weiter. Die Werkstücke dafür werden bis dahin in der Münsterbauhütte aus Main-Sandstein und Savonnières-Kalkstein gehauen. Denn hier gibt’s im Gegensatz zum Münster eine Heizung. Doch manchmal, wie Hilbert zu berichten weiß, kann man die 768 Stufen auf den Münsterturm steigen, um auf der Spitze Wärme zu erleben. Inversionswetterlage nennen Fachleute das Phänomen, wenn die oberen Luftschichten wärmer als die unteren sind. Ein Spektakel: Die Münsterspitze wird zur Insel im Wolkensee. Was Hilbert dann zum vollkommenen Münsterglück fehlt, ist noch die Alpensicht.