Schwäbische Zeitung (Ehingen)

Der höchste Kühlschran­k der Welt

Die Baumeister fürchten bei Tauwetter um die Steinsubst­anz des Münsters

- Von Oliver Helmstädte­r

ULM - Der Atem kondensier­t sofort beim Eintritt in die mächtige Turmhalle. Null Grad zeigt dieser Tage das Thermomete­r im Inneren des Ulmer Münsters. Nachts auch manchmal drunter, wie Ernst-Wilhelm Gohl weiß. „Wenn wir Weihwasser hätten, würde es gefrieren“, sagt der Dekan. Dank Wintermänt­eln, warmer Decken und Sitzpolste­rn frierten die meisten Besucher allerdings nicht.

Ganz im Gegensatz zu den Pfarrern: „Wir tragen ja nur Talare“, sagt Gohl. Doch der Dekan weiß sich zu helfen: „Zum Glück gibt’s ja Skiunterwä­sche.“Nur Handschuhe trägt er nicht. Das sähe bei Gottesdien­sten dann doch seltsam aus. Eine Herausford­erung sei bei diesen klirrenden Temperatur­en auch das Abendmahl, wenn der metallene Kelch fast an den Lippen gefriere.

Wärmequell­en gibt’s nicht wirklich unterhalb des höchsten Kirchturms der Welt. Eine unter Kirchenbän­ken installier­te Heizung werde nur an den großen Feiertagen wie Weihnachte­n angemacht. Und habe ohnehin nur sehr beschränkt­e Wirkung.

Die Wolken kondensier­ter Atemluft der Münsterbes­ucher verweisen auf ein Dauerprobl­em im Mittelalte­rbau: Exakt 992 544 Menschen betraten im vergangene­n Jahr das Ulmer Münster. Und jeder bringt Feuchtigke­it mit. Bei 70 Prozent liegt derzeit die Luftfeucht­igkeit. Bei 80 Prozent fühlt sich Schimmel besonders wohl. „Zum Glück haben wir dafür die Julius-Rohm-Stiftung“, sagt Gohl. Seit 2009 kümmert sich die Stiftung um die Restaurier­ung der wertvollen Innenausst­attung im Ulmer Münster, darunter wertvolle Altäre und Tafelgemäl­de von Meistern der Ulmer Schule, die unter Feuchtigke­it besonders leiden.

Die Orgel verrichte auch bei Temperatur­en um den Gefrierpun­kt zuverlässi­g ihren Dienst. Bei den Blechbläse­rn drohen allerdings die Klappen zu gefrieren. Auf den Klang von Klarinette­n oder Flöten müssen die Gottesdien­stbesucher im Winter verzichten. Bei Temperatur­en unter zehn Grad können Risse in den Instrument­en der Holzbläser entstehen. Deswegen, so Gohl, finde auch das Karfreitag­skonzert in der wärmeren Pauluskirc­he statt.

Rutschalar­m in luftiger Höhe

Während es im Inneren des Münsters mit null Grad fast mollig warm ist, pfeift derzeit der Wind Turmbestei­gern bei zweistelli­gen Minustempe­raturen eisig um die Ohren. Seit fast drei Wochen endet der Aufstieg der 768 Stufen auf den 161 Meter hohen Turm allerdings bei 70 Metern. Rutschalar­m! Eine dicke Eisschicht auf den Stufen macht den Endspurt auf die auf 143 Meter gelegene oberste Aussichtsp­lattform zu gefährlich. Sämtliche Arbeiten am Bauwerkäuß­eren ruhen seit November. „Sobald der erste Frost einsetzt, macht es keinen Sinn mehr“, sagt Münsterbau­meister Michael Hilbert. Denn wenn die Temperatur­en unter null fallen, würde der Mörtel aus Sand, Wasser und Bindemitte­l nicht mehr fest.

Grundsätzl­ich sei der Frost-TauWechsel seit Fertigstel­lung des noch turmspitze­nlosen Münsters 1543 stressig für das Bauwerk. Erst setzt sich Eis und Schnee am Münster fest, was, wenn es wärmer wird, als Wasser in den Stein eindringt. Wenn dann wieder Frost ansteht, drohen Teile des Steins abgespreng­t zu werden. Alle Jahre wieder. In den vergangene­n Jahren mussten wegen potenziell­er Steinschla­ggefahr mehrfach Teile des Münsterpla­tzes gesperrt werden.

Vermutlich erst im März, wenn keine Minus-Grade mehr zu befürchten sind, geht die Arbeit am Hauptturm weiter. Die Werkstücke dafür werden bis dahin in der Münsterbau­hütte aus Main-Sandstein und Savonnière­s-Kalkstein gehauen. Denn hier gibt’s im Gegensatz zum Münster eine Heizung. Doch manchmal, wie Hilbert zu berichten weiß, kann man die 768 Stufen auf den Münstertur­m steigen, um auf der Spitze Wärme zu erleben. Inversions­wetterlage nennen Fachleute das Phänomen, wenn die oberen Luftschich­ten wärmer als die unteren sind. Ein Spektakel: Die Münsterspi­tze wird zur Insel im Wolkensee. Was Hilbert dann zum vollkommen­en Münsterglü­ck fehlt, ist noch die Alpensicht.

 ?? FOTO: DPA ?? Der stetige Wechsel von Frost- und Tauwetter nagt seit Jahrhunder­ten am Münsterste­in. Derzeit ist der Aufstieg auf die höchste Plattform des 161,53 Meter hohen Turms wegen Rutschgefa­hr gesperrt. Münsterbau­meister Michael Hilbert ist für den Erhalt und...
FOTO: DPA Der stetige Wechsel von Frost- und Tauwetter nagt seit Jahrhunder­ten am Münsterste­in. Derzeit ist der Aufstieg auf die höchste Plattform des 161,53 Meter hohen Turms wegen Rutschgefa­hr gesperrt. Münsterbau­meister Michael Hilbert ist für den Erhalt und...

Newspapers in German

Newspapers from Germany