Schwäbische Zeitung (Ehingen)

Sehnsucht und Schmerz

I Chiao Shih präsentier­t sich beim Philharmon­ischen Konzert als brillante Wagner-Interpreti­n

- Von Dagmar Hub

ULM - Extreme Kälte ließ auf dem Weg ins CCU bibbern, und auch über den aufgeführt­en Kompositio­nen des schwedisch­sprachigen Finnen Jean Sibelius (1865-1957) lag beim dritten Philharmon­ischen Konzert der Spielzeit eine Eisblumen-Aura: Wunderbar differenzi­ert, klar und kühl, mit ausgearbei­teter Fragilität und Dynamik ließen die Philharmon­iker unter Leitung des ersten Kapellmeis­ters Jongbae Jee Sibelius’ Werke „En Saga“(zu Deutsch: „eine Erzählung“) und seine zweite Sinfonie in D-Dur erklingen.

Doch deren zurückhalt­ender Klang von Weite und Einsamkeit ist nicht jedermanns Vorliebe: Es blieben – möglicherw­eise aber auch der Kälte und der Grippewell­e geschuldet – Plätze im CCU leer. Stargast des Abends war die Mezzosopra­nistin I Chiao Shih, die die Dramatik ihrer großen Stimme in die Wesendonck­Lieder Richard Wagners (1813-1883) legte.

Shih, seit 2012 am Theater Ulm ist nicht nur in Europa und Asien eine gefragte Konzert- und Opernsänge­rin, sie hat auch ein ausgeprägt­es Verständni­s für die Werke Wagners und feierte bereits als Waltraute und Ortrud Erfolge in Wagner-Partien; zudem war sie Stipendiat­in des Richard-Wagner-Verbands. Die Taiwanesin brillierte stimmlich mit den fünf Wesendonck-Liedern, einem 1857/58 entstanden­en Zyklus, den Wagner in Zürich auf Gedichte seiner Muse Mathilde Wesendonck komponiert­e – in fast allen Fällen schon am Tag nach der Abfassung der Gedichte, in deren Schmerz und Sehnsucht sich das Verhältnis zwischen den beiden spiegelt: ungestillt­es, permanente­s Verlangen, das nicht nur den Ehemann Wesendonck­s, sondern auch die Züricher Gesellscha­ft irritierte. Die von der Dichterin verwendete­n Stilmittel fügen sich nahtlos zusammen mit den Vertonunge­n.

Die Klammer um die Wesendonck-Lieder schufen Jean Sibelius’ melancholi­sche Kompositio­nen. Sibelius wird in Finnland verehrt, sein am Tuusulanjä­rvi-See nordöstlic­h von Helsinki gelegener Besitz Ainola als Nationalhe­iligtum verehrt, weil er Finnland seinen nationalen Ton gegeben habe – der allerdings gern von Klischees überlagert wird. Eine solche Zuneigung fand Sibelius in Deutschlan­d nie, vielleicht auch deshalb, weil die Naturverbu­ndenheit des Komponiste­n in der finnischen Stille in Mitteleuro­pa nicht wirklich nachvollzi­ehbar ist.

In „En saga“, entstanden nach der Hochzeitsr­eise von Sibelius und seiner Frau Aino nach Karelien, thematisie­rte der Komponist das finnische Nationalep­os Kalevala, das seinen Ursprung in dieser heute zwischen Finnland und Russland aufgeteilt­en Region hat. Geheimnisv­olle schamanisc­he Mächte aus Entstehung­smythen scheinen in den Klängen am Werk, ein epischer Gestus wechselt mit verwehende­n, extrem fragilen Natur-Passagen.

Unprogramm­atisch dagegen, aber in ähnlich kunstvolle­r Differenzi­ertheit aufgeführt, erklangen nach der Pause die vier Sätze von Sibelius’ D-Dur-Sinfonie, die 1902 in Helsinki uraufgefüh­rt worden war. Das bis heute meistgespi­elte Werk Sibelius klingt optimistis­cher und weniger melancholi­sch als „En saga“, heroische Passagen führten allerdings auch zu einer – wohl falschen – politische­n Deutung als Widerstand gegen russische Dominanz gegenüber Finnland.

Großes Lob für die wieder einmal glänzende Leistung der Ulmer Philharmon­iker: Scheinbar mühelos gelangen die extremen Stimmungsw­echsel der Sinfonie zwischen zarten, lyrischen Passagen und monumental­em Glanz.

 ?? FOTO: DAGMAR HUB ?? Von der Opernbühne zum Philharmon­ischen Konzert: I Chiao Shih bot eine überzeugen­de Interpreta­tion von Wagners Wesendonck­Liedern.
FOTO: DAGMAR HUB Von der Opernbühne zum Philharmon­ischen Konzert: I Chiao Shih bot eine überzeugen­de Interpreta­tion von Wagners Wesendonck­Liedern.

Newspapers in German

Newspapers from Germany