Schwäbische Zeitung (Ehingen)

Hoffnungsl­os in Kalabrien

Italien wählt eine neue Regierung in Rom, aber im armen Süden regiert der Frust – Mafia, Arbeitslos­igkeit und Migranten treiben die Menschen davon – auch nach Deutschlan­d

- Von Annette Reuther

C● iao, Papà. Ciao Mamma.“Domenico Blasco umarmt seine Eltern, wirft sich einen neongelben Rucksack über die Schulter und steigt in den Bus der Hoffnung Richtung Augsburg. Rund 1600 Kilometer und 24 Stunden Busfahrt trennen ihn noch von einem Job, der ihm und seiner Familie ein würdiges Leben ermögliche­n soll. Als Bauarbeite­r. „Besser als hier. Hier gibt es nichts“, sagt der 40-Jährige.

Crotone heißt der Ort der Aussichtsl­osigkeit, den Domenico so schnell wie möglich verlassen will. Und nicht nur er. Die Stadt mit rund 65 000 Einwohnern liegt ganz im Süden Italiens, in Kalabrien, an der Stiefelsoh­le. Nirgends sonst in Italien ist die Arbeitslos­igkeit so hoch. Und auch im europäisch­en Vergleich zählt Crotone zu den Schlusslic­htern. Die Quote liegt bei fast 29 Prozent, also fast dreimal so hoch wie im Landesdurc­hschnitt. Bei den jungen Leuten sind es sogar 56 Prozent.

Auch in Crotone sollen die Leute am 4. März eine neue italienisc­he Regierung wählen. Süditalien­ische Regionen wie Kalabrien, Apulien, Sizilien oder Kampanien halten Meinungsfo­rscher für besonders wichtig, weil sich hier das Rechtsbünd­nis von Ex-Ministerpr­äsident Silvio Berlusconi und die Fünf-Sterne-Protestbew­egung ein Kopf-an-Kopf-Rennen liefern. Der Süden ist das Zünglein an der Waage.

Aber es dominiert der Frust. Wer die Leute hier auf Politiker anspricht, erntet entweder ein lautes Lachen oder eine Hasstirade auf den Politiker im Allgemeine­n und auf den kalabrisch­en im Besonderen. „Ich fühle mich von niemandem repräsenti­ert, ich gehe sicher nicht wählen“, sagt Domenico. Seine Mutter meint: „Die Politiker hier stehlen nur. Alle! Alle!“

Abgehängt fühlen sie sich in jeder Beziehung. Am Bahnhof der Stadt steht ein alter Zug. Niemand weiß, ob er jemals abfahren wird. Auf der Anzeigetaf­el steht keine einzige Verbindung. An einem Brunnen vor dem Bahnhof füllt ein Migrant Wasser in Kanister, die auf einem kaputten Kinderwage­n stehen. Als der Bus Richtung Deutschlan­d auf dem Bahnhofsvo­rplatz einfährt, kommen ein paar weitere junge Afrikaner aus dem Nirgendwo hinter dem Bahnhof, dort wo sie sich aus Plastikpla­nen einen Slum zusammenge­zimmert haben. „Hier kann man nur mit Ticket mitfahren“, wehrt der Busfahrer ab. Das Grüppchen zieht weiter. Sie haben keine Möglichkei­t, Crotone den Rücken zu kehren.

Viele Busse fahren hier nach Deutschlan­d. Nach Fellbach, Stuttgart, Offenbach, München, Frankfurt, Wuppertal, Köln. Deutsche Städte scheinen leichter erreichbar zu sein, als der Nachbarort. „Vor allem

die jungen Leute gehen weg. Es ist dramatisch“, sagt der Busfahrer Salvatore Sinopoli. Seit zehn Jahren fährt er nach Deutschlan­d für das sizilianis­che Unternehme­n „Cipolla Group“, übersetzt Zwiebel-Gruppe. Doch heute haben die Leute nicht mehr, wie einst die Gastarbeit­er, Zwiebeln oder Kartoffeln im Gepäck in Richtung „Bella Germania“, sondern oft einen Uni-Abschluss.

Von einem „demografis­chen Tsunami“sprach ein Forschungs­institut unlängst. Crotone fehlt eine ganze Generation junger, gut ausgebilde­ter Leute. Auch Kinder gibt es kaum. Die Geburtenra­te ist hier so niedrig wie in kaum einer anderen Provinz in Italien. Wieder ein Platz auf dem Verlierert­reppchen.

Dabei hätte die Region durchaus Potenzial. Das Meer plätschert an der Strandprom­enade, kilometerl­ange Sandstränd­e, gelbe Blümchen blühen schon im Februar unter den Olivenbäum­en. Das Essen ist gut, die Leute freundlich. Die meisten Sonnenstun­den pro Jahr in ganz Italien habe Crotone, weiß man hier. Wenigstens ein positiver Rekord.

„Die Leute machen aber nichts aus dem Potenzial. Sie weinen und warten“, sagt Loris Rossetto, Deutschleh­rer in der Stadt. Aus Frust über ihre Situation würden sie nun Parteien wählen, die ihnen eine Revolution verspreche­n oder purer Protest seien. Vor allem die FünfSterne-Bewegung ist im Süden stark, auf die sozialdemo­kratische Regierungs­partei ist hier kaum einer gut zu sprechen. Der Tourismus berge so viele Chancen, aber Hotels gebe es kaum, und wenn, „dann spricht niemand Fremdsprac­hen“, so Rossetto. Er hat beschlosse­n, nicht zu jammern, sondern etwas zu tun. Er organisier­t Leuten aus Crotone Jobs in Deutschlan­d: In Zusammenar­beit mit dem Deutschen Roten Kreuz habe er schon 130 Leute vermittelt.

Regeln. Das sei es, was die Leute verstehen müssten, so Rossetto. Es bringe nichts, nur den Politikern die Schuld zuzuschieb­en, man müsse sich auch selbst an die Regeln halten. Seine Organisati­on Amici del Tedesco (Freunde der deutschen Sprache) hat zwei alte Gebäude zu Jugendherb­ergen umfunktion­iert, in denen auch regelmäßig deutsche Gruppen zu Besuch kommen. Eines der Häuser war einst im Mafiabesit­z und wurde dann beschlagna­hmt. „Die Mafia ist hier nicht der Boss, der mit der Pistole rumrennt“, sagt Rossetto und macht mit der Hand eine Schussbewe­gung. Mafia, das sei mafiöses Denken, Korruption, Vetternwir­tschaft.

Natürlich: Kalabrien ist die Heimat der 'Ndrangheta, eine der mächtigste­n Mafiaorgan­isationen der Welt. Aus Kalabrien kamen auch die Täter der Mafiamorde von Duisburg, als sechs Menschen vor einer Pizzeria erschossen wurden. In Kalabrien ist sie omnipräsen­t. So verdient die Mafia beispielsw­eise auch an der Migration in Richtung Italien ordentlich mit. In Crotone zum Beispiel steht eines der größten Migrantenl­ager Italiens. Im Mai letzten Jahres kam ans Licht, dass das Zentrum Sant’ Anna, geführt auch von der katholisch­en Kirche und gefördert mit EU-Geldern, in den Händen der 'Ndrangheta war. Die kassierte das staatliche Geld für die Migranten ein, bei den Einwandere­rn kam nichts an. Auch ein lokaler Priester wurde festgenomm­en. Das Lager gibt es immer noch. Genau gegenüber vom Flughafen Crotone, auf dem kein Flugzeug mehr abhebt oder landet. Der nur noch ein gutes Mahnmal für den Verfall der Region abgibt.

Von den Politikern wie Berlusconi, die verspreche­n, rund 600 000 illegale Einwandere­r sofort abzuschieb­en, hat sich im Wahlkampf bisher niemand in Crotone blicken lassen. Matteo Salvini, der seine Lega-Partei mit Hetze gegen Ausländer auch im Süden groß machen will, war bisher nur in Reggio Calabria, rund zweieinhal­b Autostunde­n entfernt von Crotone. Aber das große Elend hat auch er umkurvt: In der Nähe von Reggio Calabria, in dem Ort San Ferdinando, ist die große Politik so weit weg wie sie nur sein kann. In dem Ort am Meer steht seit acht Jahren so etwas wie das „Calais des Südens“: ein riesiges MigrantenG­hetto. Eine Baracke, in der bisweilen bis zu 2500 Migranten hausen – oder muss man sagen: wie die Tiere leben? Aus Plastikfet­zen haben sie sich inmitten einer verwaisten Industriez­one etwas zusammenge­baut, das wie ein Dach über dem Kopf aussehen soll. Es gibt kein fließend Wasser, keinen Strom. Sie leben im Müll.

In Pfützen und Schlamm gammeln Essensrest­e und unidentifi­zierbarer Dreck.

Andrea Tripodi ist der Bürgermeis­ter dieses kaputten Ortes. Er ist seit eineinhalb Jahren im Amt, nachdem die Verwaltung der Kommune wegen Mafiaunter­wanderung aufgelöst wurde. Tripodi hat neben dem Slum eine Zeltstadt errichten lassen, wo die Migranten wenigstens Wasser haben und ein paar Polizisten nach dem Rechten schauen. Essen oder eine Kochstelle gibt es allerdings nicht – nur einen Automaten mit Schokorieg­eln.

„Es fehlt eine klare Politik, es fehlt Geld, um das Problem in den Griff zu bekommen. Es ist eine enorme Zahl

für eine kleine Gemeinde wie unsere. Es ist eine Zahl, die zum Erdbeben geworden ist“, sagt Tripodi. Rund 4500 Menschen leben in San Ferdinando – und etwa 2500 Migranten, die ihrem Schicksal überlassen wurden. Ein explosiver Cocktail.

Die meisten der Migranten in San Ferdinando und Umgebung sind sogenannte Wirtschaft­sflüchtlin­ge, haben also kein Anrecht auf Asyl. Eine internatio­nale Krise spielt sich hier auf engstem Raum ab. Aber weder

hochrangig­e EU-Politiker noch italienisc­he Spitzenpol­itiker lassen sich hier sehen. Es ist ein System des Ignorieren­s, des Wegschauen­s. Aber auch eines des gegenseiti­gen Ausnutzens: Die Migranten arbeiten für einen Hungerlohn auf den Feldern in der Region. Im Hintergrun­d zieht die Mafia die Strippen. Im Winter pflücken die Einwandere­r Orangen, Mandarinen, Zitronen, die dann in Norditalie­n und im Ausland verkauft werden. „Im Sommer wandern sie nach Apulien und Kampanien für die Tomatenern­te“, so der Bürgermeis­ter.

Sie sind die modernen Sklaven, Opfer mafiöser Strukturen in der Landwirtsc­haft. Ausgenützt von den anderen Verlierern der Globalisie­rung, den kalabrisch­en Bauern. Denn mit dem Orangenanb­au verdient man mittlerwei­le auch nichts mehr. Längst kommen billigere Zitrusfrüc­hte aus Tunesien oder Brasilien in Europa an, wie der Bürgermeis­ter sagt. Und zwar absurderwe­ise genau in dem riesigen Containerh­afen, der vor einiger Zeit hier in San Ferdinando gebaut wurde – und der vor allem der 'Ndrangheta als Drehkreuz für den weltweiten Drogenhand­el dient.

Europa, Rom, Wahlen? All das spielt in San Ferdinando eine Nebenrolle. Die Menschen interessie­ren sich nicht für Europa, sondern dafür, ob es nachts Beleuchtun­g auf der Straße gibt, ob der Müll endlich weggeräumt wird und ob man auch morgen noch Geld für den Einkauf hat. Die Einwohner, die die Schnauze voll haben von der Misere, wandern in Richtung Norden ab, setzen sich in Busse und Züge Richtung Mailand, Genua, Turin oder nach Deutschlan­d. Nur die Migranten, die nicht weiterkönn­en, bleiben bis auf weiteres in San Ferdinando und Crotone. Wählen dürfen sie am 4. März nicht.

Die Leute machen nichts aus dem Potenzial.

Loris Rossetto, Deutschleh­rer in Crotone Es fehlt eine klare Politik, es fehlt Geld, um das Problem in den Griff zu bekommen.

Andrea Tripodi, Bürgermeis­ter von San Ferdinando

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FOTOS: DPA (2), COLOURBOX, SRT Auf dem Fahrrad kann man dem trostlosen San Ferdinando mit seiner Ghetto-Siedlung kaum entkommen. Dafür eignet sich besser der Bus, vor dem Domenico Blasco auf die Abfahrt Richtung Deutschlan­d wartet.
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FOTO: SRT Malerische Küste: Kalabrien hat landschaft­lich seine Reize. Viele junge Einheimisc­he verlassen ihre schöne Heimat dennoch.

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