Wo die Bedürftigen Kunden sind
Bei den Tafeln in Ulm und Neu-Ulm werden die Lebensmittel billig verkauft
●
ULM (dpa) - Es geht auch anders. Nach Herkunft und Pass – wie derzeit in Essen – wird bei den 145 Tafeln in Baden-Württemberg niemand gefragt. Und auch nicht bei den meisten anderen der rund 930 Tafeln der Republik. „Jemanden auszuschließen, weil er nicht Deutscher ist, käme nie infrage“, sagt Claudia Steinhauer. Beim Deutschen Roten Kreuz (DRK) ist sie für sechs Tafelläden in Ulm und Umgebung zuständig.
„Neben der Bedürftigkeit zählt allein, welchen Zeitslot jemand für den Einkauf bekommen hat – und wie viel er sich leisten kann. Verschenkt wird nichts“, sagt Steinhauer. Ein vor Jahren eingeführtes „rollierendes Zeitkartensystem“verhindert in Ulm Streit und Rangeleien um die besten Angebote der Tafel. „Das kam uns zugute, als 2015 der Andrang von Flüchtlingen immer größer wurde.“
Bewährt hat sich in Ulm und im benachbarten bayerischen Neu-Ulm, dass Lebensmittel nicht verteilt, sondern verkauft werden. Zu Preisen im kleinen Centbereich. Ein Becher Joghurt für 10, eine Schale Erdbeeren für 25 und ein Kilo Bäckerbrot für 50 Cent. Alles Ware, die anderswo „aussortiert“wurde, obwohl sie noch verzehrbar ist.
Es sei „eine Frage der Würde“, sagt Steinhauer, dass Lebensmittel nicht kostenlos weggegeben werden – oder wie mancherorts gegen einen Pauschalbetrag von zwei Euro in fertiggepackten Tüten. „Wenn jemand schon mit Hartz IV auskommen muss oder noch weniger hat, dann muss er sich bei uns nicht auch noch wie ein Bettler fühlen, sondern kann für recht wenig Geld zahlender Kunde sein und auswählen.“
Freitagnachmittag, fünf Grad unter Null. Gut 20 Leute warten vor dem Laden in der Ulmer Schaffnerstraße 17, rund 15 Gehminuten vom Münster mit dem berühmten höchsten Kirchturm der Welt entfernt. Punkt 14 Uhr öffnet das Geschäft. Eingelassen wird, wer eine entsprechende Zeitkarte vorweisen kann. Später kommen Kunden mit Karten für 14.30, 15.00, 15.30 Uhr und so weiter. Für das nächste Mal bekommt man jeweils eine Karte mit einer um 30 Minuten versetzten Einlasszeit – bis man wieder genau zur Ladenöffnung dran ist.
Rollierendes System
„So ist jeder mal der Erste und kann aus dem Vollen schöpfen“, sagt Jürgen-Helmut Liebhart (66) vom Tafelladen des Bayerischen Roten Kreuzes (BRK) in Neu-Ulm, Ulms Schwesterstadt am gegenüberliegenden Ufer der Donau. „Aber jeder ist auch mal der Letzte und muss dann zufrieden sein mit dem, was noch übrig ist.“Weil das System fair sei, sagt Liebhart, werde es akzeptiert. 2015 wurde es jedoch auf eine harte Probe gestellt. Immer mehr Flüchtlinge ohne Deutschkenntnisse drängten in die Tafelläden. „Die verstanden das nicht und wollten einfach nur zugreifen“, sagt Steinhauer. So manchen deutschen „Stammkunden“habe das verstört, ältere Frauen etwa. Nicht wenige seien weggeblieben, einige bis heute.
Doch die Lage normalisierte sich. Flüchtlinge selbst haben dazu beigetragen. Der Syrer Mohamad Ayoubi zum Beispiel. Der angehende Zahnarzt aus Damaskus konnte bereits etwas Deutsch. „Ich habe 2015 das Dilemma gesehen“, sagt er. „Da habe ich die Regeln der Tafel ins Arabische übersetzt.“Im DRK-Tafelladen in Ehingen bei Ulm hat er Landsleuten und anderen Flüchtlingen erklärt, „wo es hier lang geht“. Heute ist das nicht mehr nötig, im Südwesten hat sich alles wieder eingespielt. Und der 29-jährige Ayoubi bekam die Möglichkeit, an der Uni Ulm seine zahnmedizinische Ausbildung fortzusetzen.
Dass nun in Essen Ausländern der Zugang zur Tafel verwehrt wurde, nachdem es Engpässe bei Zulieferungen und Rangeleien gab, hat Debatten ausgelöst. Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) übte Kritik, der designierte Bundesinnenminister Horst Seehofer (CSU) äußerte Verständnis.
Nicht beim Roten Kreuz
Auch für Claudia Steinhauer sind die Probleme in Essen nachvollziehbar – mit einer klaren Einschränkung: „Wenn die Ware nicht mehr ausreicht, die der Handel uns überlässt, kann man nur noch rationieren“, sagt sie. „Aber das muss für alle gleichermaßen gelten, nicht allein für Migranten. So eine Diskriminierung verstößt jedenfalls gegen unsere Grundsätze beim Roten Kreuz.“
Essener Zustände gebe es im Südwesten „auf keinen Fall“, sagt Wolfhart von Zabiensky, der Vorsitzende des Landesverbandes der Tafeln. „Wir haben nie das Problem gehabt, dass wir irgendjemanden ausgrenzen müssen.“Allerdings sind im reichen deutschen Süden wohl auch die freiwilligen Zulieferungen von Handel und Gastronomie sowie die Spenden immer noch einigermaßen ausreichend.
„Viele unserer Mitglieder schildern, dass sie enorm unter Druck stehen“, sagt die Sprecherin des Dachverbandes der Tafeln, Stefanie Bresgott. Dem Essener Beispiel wolle fast keine Tafel folgen. „Für sie zählt Bedürftigkeit, nicht die Herkunft.“Die Tafeln seien „im regen Austausch und sie teilen sich ihre Best-PracticeBeispiele mit“.