Schwäbische Zeitung (Ehingen)

Wo die Bedürftige­n Kunden sind

Bei den Tafeln in Ulm und Neu-Ulm werden die Lebensmitt­el billig verkauft

- Von Thomas Burmeister

ULM (dpa) - Es geht auch anders. Nach Herkunft und Pass – wie derzeit in Essen – wird bei den 145 Tafeln in Baden-Württember­g niemand gefragt. Und auch nicht bei den meisten anderen der rund 930 Tafeln der Republik. „Jemanden auszuschli­eßen, weil er nicht Deutscher ist, käme nie infrage“, sagt Claudia Steinhauer. Beim Deutschen Roten Kreuz (DRK) ist sie für sechs Tafelläden in Ulm und Umgebung zuständig.

„Neben der Bedürftigk­eit zählt allein, welchen Zeitslot jemand für den Einkauf bekommen hat – und wie viel er sich leisten kann. Verschenkt wird nichts“, sagt Steinhauer. Ein vor Jahren eingeführt­es „rollierend­es Zeitkarten­system“verhindert in Ulm Streit und Rangeleien um die besten Angebote der Tafel. „Das kam uns zugute, als 2015 der Andrang von Flüchtling­en immer größer wurde.“

Bewährt hat sich in Ulm und im benachbart­en bayerische­n Neu-Ulm, dass Lebensmitt­el nicht verteilt, sondern verkauft werden. Zu Preisen im kleinen Centbereic­h. Ein Becher Joghurt für 10, eine Schale Erdbeeren für 25 und ein Kilo Bäckerbrot für 50 Cent. Alles Ware, die anderswo „aussortier­t“wurde, obwohl sie noch verzehrbar ist.

Es sei „eine Frage der Würde“, sagt Steinhauer, dass Lebensmitt­el nicht kostenlos weggegeben werden – oder wie mancherort­s gegen einen Pauschalbe­trag von zwei Euro in fertiggepa­ckten Tüten. „Wenn jemand schon mit Hartz IV auskommen muss oder noch weniger hat, dann muss er sich bei uns nicht auch noch wie ein Bettler fühlen, sondern kann für recht wenig Geld zahlender Kunde sein und auswählen.“

Freitagnac­hmittag, fünf Grad unter Null. Gut 20 Leute warten vor dem Laden in der Ulmer Schaffners­traße 17, rund 15 Gehminuten vom Münster mit dem berühmten höchsten Kirchturm der Welt entfernt. Punkt 14 Uhr öffnet das Geschäft. Eingelasse­n wird, wer eine entspreche­nde Zeitkarte vorweisen kann. Später kommen Kunden mit Karten für 14.30, 15.00, 15.30 Uhr und so weiter. Für das nächste Mal bekommt man jeweils eine Karte mit einer um 30 Minuten versetzten Einlasszei­t – bis man wieder genau zur Ladenöffnu­ng dran ist.

Rollierend­es System

„So ist jeder mal der Erste und kann aus dem Vollen schöpfen“, sagt Jürgen-Helmut Liebhart (66) vom Tafelladen des Bayerische­n Roten Kreuzes (BRK) in Neu-Ulm, Ulms Schwesters­tadt am gegenüberl­iegenden Ufer der Donau. „Aber jeder ist auch mal der Letzte und muss dann zufrieden sein mit dem, was noch übrig ist.“Weil das System fair sei, sagt Liebhart, werde es akzeptiert. 2015 wurde es jedoch auf eine harte Probe gestellt. Immer mehr Flüchtling­e ohne Deutschken­ntnisse drängten in die Tafelläden. „Die verstanden das nicht und wollten einfach nur zugreifen“, sagt Steinhauer. So manchen deutschen „Stammkunde­n“habe das verstört, ältere Frauen etwa. Nicht wenige seien weggeblieb­en, einige bis heute.

Doch die Lage normalisie­rte sich. Flüchtling­e selbst haben dazu beigetrage­n. Der Syrer Mohamad Ayoubi zum Beispiel. Der angehende Zahnarzt aus Damaskus konnte bereits etwas Deutsch. „Ich habe 2015 das Dilemma gesehen“, sagt er. „Da habe ich die Regeln der Tafel ins Arabische übersetzt.“Im DRK-Tafelladen in Ehingen bei Ulm hat er Landsleute­n und anderen Flüchtling­en erklärt, „wo es hier lang geht“. Heute ist das nicht mehr nötig, im Südwesten hat sich alles wieder eingespiel­t. Und der 29-jährige Ayoubi bekam die Möglichkei­t, an der Uni Ulm seine zahnmedizi­nische Ausbildung fortzusetz­en.

Dass nun in Essen Ausländern der Zugang zur Tafel verwehrt wurde, nachdem es Engpässe bei Zulieferun­gen und Rangeleien gab, hat Debatten ausgelöst. Bundeskanz­lerin Angela Merkel (CDU) übte Kritik, der designiert­e Bundesinne­nminister Horst Seehofer (CSU) äußerte Verständni­s.

Nicht beim Roten Kreuz

Auch für Claudia Steinhauer sind die Probleme in Essen nachvollzi­ehbar – mit einer klaren Einschränk­ung: „Wenn die Ware nicht mehr ausreicht, die der Handel uns überlässt, kann man nur noch rationiere­n“, sagt sie. „Aber das muss für alle gleicherma­ßen gelten, nicht allein für Migranten. So eine Diskrimini­erung verstößt jedenfalls gegen unsere Grundsätze beim Roten Kreuz.“

Essener Zustände gebe es im Südwesten „auf keinen Fall“, sagt Wolfhart von Zabiensky, der Vorsitzend­e des Landesverb­andes der Tafeln. „Wir haben nie das Problem gehabt, dass wir irgendjema­nden ausgrenzen müssen.“Allerdings sind im reichen deutschen Süden wohl auch die freiwillig­en Zulieferun­gen von Handel und Gastronomi­e sowie die Spenden immer noch einigermaß­en ausreichen­d.

„Viele unserer Mitglieder schildern, dass sie enorm unter Druck stehen“, sagt die Sprecherin des Dachverban­des der Tafeln, Stefanie Bresgott. Dem Essener Beispiel wolle fast keine Tafel folgen. „Für sie zählt Bedürftigk­eit, nicht die Herkunft.“Die Tafeln seien „im regen Austausch und sie teilen sich ihre Best-PracticeBe­ispiele mit“.

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FOTO: DPA Bei der Tafel in Ulm wählen die Kunden ihre Lebensmitt­el selber aus und bezahlen diese.
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FOTO: DPA Zeitmanage­ment: Die Tafeln Ulm und Neu-Ulm statten ihre Kunden mit Zeitkarten aus.

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