Schwäbische Zeitung (Ehingen)

Fast 150 000 Fälle von Hartz-IV-Missbrauch

Debatte über Hartz IV und Armut in Deutschlan­d trifft Banden-Missbrauch aus Osteuropa

- Von Sabine Lennartz

NÜRNBERG (AFP/dpa) - Die Bundesagen­tur für Arbeit (BA) hat 2017 wegen falscher Angaben oder verspätete­r Meldungen zu Hartz IV 148 524 Verfahren eingeleite­t. Nach BA-Angaben waren dies 0,8 Prozent weniger als im Jahr davor. Insgesamt sei eine Schadenssu­mme von 54 Millionen Euro von Empfängern zurückgefo­rdert worden.

BERLIN – Arbeitsmin­ister Hubertus Heil (SPD) nennt die Debatte „abstrakt“, Gesundheit­sminister Jens Spahn (CDU) hält sie für dringend nötig – lange nicht wurde so viel und so emotional über Hartz IV diskutiert wie in den vergangene­n Wochen. Dabei kommen mehrere Dinge zusammen: die Vorfälle bei der Essener Tafel, die die Diskussion schürten, ob man in Deutschlan­d überhaupt Nahrungsmi­ttelhilfe braucht. Die Tatsache, dass 1,95 Millionen Kinder in Deutschlan­d von Hartz IV leben müssen. Und die Aufregung darüber, dass immer mehr Ausländer in Deutschlan­d die Sozialhilf­e beantragen, manche von ihnen in betrügeris­cher Absicht. 150 000 Verfahren wegen Missbrauch­sverdacht hat die Bundesagen­tur für Arbeit im vergangene­n Jahr eingeleite­t.

In Gelsenkirc­hen wurde schon 2016 eine Soko Scheinarbe­it gegründet. Denn das Geschäftsm­odell ist überall im Ruhrgebiet bekannt. Schrottimm­obilien werden gekauft, befreundet­e Scheinarbe­itgeber melden Jobs für Hauswarte und Putzfrauen an und holen 6000 Rumänen und Bulgaren in die Stadt. Wer einen Minijob hat, kann dann Hilfe zum Lebensunte­rhalt beantragen, bei einer sechsköpfi­gen Familie können das bis zu 1600 Euro sein. Oder aber es wird den Arbeitnehm­ern sofort gekündigt, wenn sie in Deutschlan­d sind, und sie erhalten Hartz IV. „Unser Sozialsyst­em hat eine Anreizfunk­tion im europäisch­en Binnenmark­t“, sagt CSU-Landesgrup­penchef Alexander Dobrindt. „Der Missbrauch durch ausländisc­he Banden kann nicht akzeptiert werden.“Dobrindt mahnt von der Bundesregi­erung einen Plan an. Er rät, auch die Mindestdau­er von einem Tag bis zum Anspruch auf die Hilfe zu überprüfen.

Die Anreize vor allem für Familien aus ärmeren europäisch­en Ländern sind hoch. Denn das sogenannte Lohnabstan­dsgebot – also dass jemand, der jeden Tag zur Arbeit fährt, mehr haben soll als Hartz IV – wird bei Alleinerzi­ehenden besser eingehalte­n als bei großen Familien. Bei einem Paar mit fünf Kindern müsste laut Bund der Steuerzahl­er die Familie schon 3300 Euro brutto verdienen, um das Hartz IV-Niveau zu erreichen. Und ein alleinverd­ienender Familienva­ter mit zwei Kindern müsste 2570 Euro im Monat verdienen, um das Hartz-IV-Niveau von 2007 Euro zu erreichen.

Die Zahl der deutschen Hartz-IVEmpfänge­r ist in den letzten Jahren gesunken, gestiegen ist die Zahl der ausländisc­hen Bezieher. Ende 2017 gab es 4,1 Millionen Deutsche und 2,1 Millionen ausländisc­he Bezieher.

Onlinepeti­tion an Spahn

Eine ganz andere Debatte ist rund um die Essener Tafel entstanden, die zeitweise keine neuen Ausländer als Kunden mehr aufgenomme­n hat. Sind die Tafeln überhaupt nötig? „Hartz IV bedeutet nicht Armut“, hatte der neue Gesundheit­sminister Jens Spahn (CDU) gesagt – und unter Betroffene­n einen Proteststu­rm ausgelöst. „Dieser Satz tat mir weh“, schreibt Sandra S., 40, in ihrer Onlinepeti­tion. „Ich bin 40 Jahre alt, wohne in Baden-Württember­g und habe einen zehnjährig­en Sohn. Leider bin auch ich Empfängeri­n von Sozialleis­tungen – sprich Hartz IV. Dies öffentlich zuzugeben, fällt mir nicht leicht. Doch der Wille, die Aussagen von Jens Spahn nicht einfach vorüberzie­hen zu lassen, ist stärker als die Scham.“Denn Spahn verstärke das Bild, „das viele Menschen von Menschen wie mir haben: ,Das sind doch Schmarotze­r!‘, ,Die leben von meinen Steuergeld­ern!‘, ,Die soll doch einfach arbeiten gehen!‘“Sie und ihr Sohn müssten mit zehn Euro am Tag auskommen. Das sei finanziell­e Armut.

156 000 Unterzeich­ner haben bereits die Petition unterschri­eben. „Zeigen Sie uns für nur einen Monat, wie Sie auf Basis des Hartz-IVGrundreg­elsatzes Ihren Alltag meistern. Dann gehen wir beide einen Kaffee trinken und unterhalte­n uns noch einmal darüber, was Armut bedeutet“, hat Sandra S. an Spahn geschriebe­n.

Diesem Experiment hat Jens Spahn bisher nicht zugestimmt. Wohl aber, dass er sich mit Sandra S. treffen und reden will.

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FOTO: DPA Preisschil­d im Ulmer Tafelladen: Auf Einrichtun­gen wie diese sind viele Geringverd­iener in Deutschlan­d angewiesen.

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