Auf dem Kreuzweg der großen Emotionen
Die Aufführung von Bachs Matthäus-Passion in der Pauluskirche ist ein Erlebnis – auch dank der brillanten Solisten
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ULM - Welchen Eindruck die Musik Johann Sebastian Bachs zur Zeit ihrer Entstehung auf die Menschen hatte, kann man sich denken – dennoch erstaunt die Komplexität wie auch die Zeitlosigkeit seiner Musik bei jedem Hören von neuem. Dabei ist die Matthäus-Passion in ihren Dimensionen schon immer ein Koloss von beinahe größenwahnsinnigem Ausmaß gewesen: Zahlreiche Solisten, zwei Chöre, Orchester, Orgel und fast drei Stunden Aufführungsdauer. Nicht nur ein Meisterstück aus der produktiven Bach’schen Feder, sondern ein Gipfelpunkt abendländischer Kultur, den es in der restlos ausverkauften Pauluskirche mit herausragenden Solisten zu erleben gab.
Den Auftakt der Münsterkantorei in die Konzertsaison mochten sich nur wenige entgehen lassen – 1000 Hörer fanden Platz in der Kirche, etliche mussten aber auch an der Abendkasse noch abgewiesen werden. Es war schlicht kein Platz mehr in der Kirche.
Gut so, möchte man da fast sagen, denn es war hervorragend, was der sehr souveräne Motettenchor mit Verstärkung durch den Jugendchor der Münsterkantorei und dem brillanten Karlsruher Barockorchester zu Gehör gab.
Die Leidensgeschichte Christi scheint mit ihrer in epische Ausmaße gestreckten Darstellung gut in unsere Tage zu passen, wo das Wegschauen der Unbeteiligten, die Gleichgültigkeit vor dem Leid anderer ins mediale Hintergrundrauschen eingeht. Nach drei emotionalen Stunden aber geht man nicht unberührt aus der Kirche, sondern ist den Kreuzweg mitgegangen, hat mitgelitten und empfindet den finalen Choral an Jesu Grab – „Wir setzen uns mit Tränen nieder“– als Tröstung: „Ruhe sanfte“.
So glanzvoll alle agierten, so sehr waren doch die narrativen Passagen von den Gesangssolisten getragen, die durchweg begeisterten. Miriam Feuersingers klarer Sopran fesselte von der ersten Note an. Die Mischung aus zurückhaltender Noblesse und emotionalem Zugriff gelang ihr hervorragend.
Gänsehaut erzeugten auch ihre Duette mit Countertenor Franz Vitzthum: makellose Intonation, perfekt in Ausdruck und Harmonie. Überhaupt gefiel der Beitrag Vitzthums durch die berührende Perfektion des Ausdrucks, die Text und Bachs Musik in brillanter Detailschärfe herrlich ausdeutete. Daniel Blumenscheins wohltemperierter Bass war gerade auch im Zusammenspiel mit Gernot Heinrich (TenorArien) und Christian Palm (Christusworte) ein wahres Vergnügen. Johannes Kaleschke (Evangelist) sorgte seinerseits dafür, dass der Zuschauer dem von Friedemann Johannes Wieland über die Werkdauer straff gehaltenen Spannungsbogen gespannt folgte.
Als Thomaskantor hatte Bach sozusagen geistliche Gebrauchsmusik für den Gottesdienst zu schreiben und nicht wenig davon. Doch nach Bachs Tod gerät sein Werk weitgehend in Vergessenheit und es ist Nachfolgern wie etwa Felix Mendelssohn-Bartholdy zu verdanken, dass ab dem 19. Jahrhundert ein regelrechter Bach-Boom einsetzte und seine Werke zum Pflichtprogramm in Kirchen und Konzertsälen machte. Wie genial dieser Komponist war, davon zeugte diese Aufführung, die in „historisch informierter“Klangkultur geboten wurde.
Das Karlsruher Barockorchester glänzte mit dynamischen Streichern, punktgenauen und, wo nötig, auch herben Holzbläsereinsätzen und zumindest in den vorderen Reihen dürfte auch der konturierende Gambenklang wohlig aufgefallen sein.
Die Matthäuspassion als düstere Beschreibung eines Leidensweges? Nicht nur. Da war viel Licht in der Aufführung, da gab es die atmende Bach’sche Verspieltheit in der Musik und, zum Ende hin, auch Optimismus.
Dafür gab es vom Publikum Standing Ovations und tosenden Applaus – auch für diesen Komponisten, der seiner Zeit unendlich weit voraus war.
Das Heft mit dem Konzertprogramm der Münsterkantorei liegt kostenlos im Ulmer Münster aus.