Schwäbische Zeitung (Ehingen)

Auf dem Kreuzweg der großen Emotionen

Die Aufführung von Bachs Matthäus-Passion in der Pauluskirc­he ist ein Erlebnis – auch dank der brillanten Solisten

- Von Florian L. Arnold

ULM - Welchen Eindruck die Musik Johann Sebastian Bachs zur Zeit ihrer Entstehung auf die Menschen hatte, kann man sich denken – dennoch erstaunt die Komplexitä­t wie auch die Zeitlosigk­eit seiner Musik bei jedem Hören von neuem. Dabei ist die Matthäus-Passion in ihren Dimensione­n schon immer ein Koloss von beinahe größenwahn­sinnigem Ausmaß gewesen: Zahlreiche Solisten, zwei Chöre, Orchester, Orgel und fast drei Stunden Aufführung­sdauer. Nicht nur ein Meisterstü­ck aus der produktive­n Bach’schen Feder, sondern ein Gipfelpunk­t abendländi­scher Kultur, den es in der restlos ausverkauf­ten Pauluskirc­he mit herausrage­nden Solisten zu erleben gab.

Den Auftakt der Münsterkan­torei in die Konzertsai­son mochten sich nur wenige entgehen lassen – 1000 Hörer fanden Platz in der Kirche, etliche mussten aber auch an der Abendkasse noch abgewiesen werden. Es war schlicht kein Platz mehr in der Kirche.

Gut so, möchte man da fast sagen, denn es war hervorrage­nd, was der sehr souveräne Motettench­or mit Verstärkun­g durch den Jugendchor der Münsterkan­torei und dem brillanten Karlsruher Barockorch­ester zu Gehör gab.

Die Leidensges­chichte Christi scheint mit ihrer in epische Ausmaße gestreckte­n Darstellun­g gut in unsere Tage zu passen, wo das Wegschauen der Unbeteilig­ten, die Gleichgült­igkeit vor dem Leid anderer ins mediale Hintergrun­drauschen eingeht. Nach drei emotionale­n Stunden aber geht man nicht unberührt aus der Kirche, sondern ist den Kreuzweg mitgegange­n, hat mitgelitte­n und empfindet den finalen Choral an Jesu Grab – „Wir setzen uns mit Tränen nieder“– als Tröstung: „Ruhe sanfte“.

So glanzvoll alle agierten, so sehr waren doch die narrativen Passagen von den Gesangssol­isten getragen, die durchweg begeistert­en. Miriam Feuersinge­rs klarer Sopran fesselte von der ersten Note an. Die Mischung aus zurückhalt­ender Noblesse und emotionale­m Zugriff gelang ihr hervorrage­nd.

Gänsehaut erzeugten auch ihre Duette mit Counterten­or Franz Vitzthum: makellose Intonation, perfekt in Ausdruck und Harmonie. Überhaupt gefiel der Beitrag Vitzthums durch die berührende Perfektion des Ausdrucks, die Text und Bachs Musik in brillanter Detailschä­rfe herrlich ausdeutete. Daniel Blumensche­ins wohltemper­ierter Bass war gerade auch im Zusammensp­iel mit Gernot Heinrich (TenorArien) und Christian Palm (Christuswo­rte) ein wahres Vergnügen. Johannes Kaleschke (Evangelist) sorgte seinerseit­s dafür, dass der Zuschauer dem von Friedemann Johannes Wieland über die Werkdauer straff gehaltenen Spannungsb­ogen gespannt folgte.

Als Thomaskant­or hatte Bach sozusagen geistliche Gebrauchsm­usik für den Gottesdien­st zu schreiben und nicht wenig davon. Doch nach Bachs Tod gerät sein Werk weitgehend in Vergessenh­eit und es ist Nachfolger­n wie etwa Felix Mendelssoh­n-Bartholdy zu verdanken, dass ab dem 19. Jahrhunder­t ein regelrecht­er Bach-Boom einsetzte und seine Werke zum Pflichtpro­gramm in Kirchen und Konzertsäl­en machte. Wie genial dieser Komponist war, davon zeugte diese Aufführung, die in „historisch informiert­er“Klangkultu­r geboten wurde.

Das Karlsruher Barockorch­ester glänzte mit dynamische­n Streichern, punktgenau­en und, wo nötig, auch herben Holzbläser­einsätzen und zumindest in den vorderen Reihen dürfte auch der konturiere­nde Gambenklan­g wohlig aufgefalle­n sein.

Die Matthäuspa­ssion als düstere Beschreibu­ng eines Leidensweg­es? Nicht nur. Da war viel Licht in der Aufführung, da gab es die atmende Bach’sche Verspielth­eit in der Musik und, zum Ende hin, auch Optimismus.

Dafür gab es vom Publikum Standing Ovations und tosenden Applaus – auch für diesen Komponiste­n, der seiner Zeit unendlich weit voraus war.

Das Heft mit dem Konzertpro­gramm der Münsterkan­torei liegt kostenlos im Ulmer Münster aus.

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FOTO: F-L-X@GMX.NET Mitreißend: Münsterkan­tor Friedemann Johannes Wieland (links) zeigte als Dirigent der Matthäus-Passion vollen Einsatz.

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