Schwäbische Zeitung (Ehingen)

Aufs Geratewohl drauflos

- ●» r.waldvogel@schwaebisc­he.de

Das „Digitale Wörterbuch der deutschen Sprache (DWDS)“ist heutzutage ein unverzicht­bares Hilfsmitte­l für einschlägi­ge Recherchen. Dabei werden – etwas vereinfach­t dargestell­t – riesige Datenmenge­n von Texten der verschiede­nsten Art elektronis­ch abgegriffe­n, wobei dann spezifisch­e Informatio­nen anfallen. Unter anderem zu Bedeutung, Herkunft, Verwendung und Rechtschre­ibung, aber auch – besonders interessan­t – zum Wortverlau­f: Wann tauchte ein Wort erstmals in unserer Sprache auf, und wie hat es sich in puncto Häufigkeit bis heute entwickelt? Unsere Sprache ist immer im Fluss. Wörter kommen, Wörter gehen, Bedeutunge­n und Schreibwei­sen verändern sich. Jeden Freitag greifen wir hier solche Fragen auf.

Nehmen wir ein Beispiel: aufs Geratewohl. Gebraucht wird es als Synonym für auf gut Glück, ohne Plan, unüberlegt. Aber woher es kommt, erschließt sich vielleicht nicht jedem auf Anhieb. Hier hilft ein anderes, entschiede­n älteres, aber ebenfalls unverzicht­bares Kompendium weiter: das Deutsche Wörterbuch der Brüder Grimm. Dort steht, in heutiges Deutsch übertragen: „Geratewohl (…) ist der zum Substantiv gewordene Imperativ: gerate wohl!, wie der Krieger wohl dem soeben geschleude­rten Speer, der Spieler dem rollenden Würfel zurief...“Mit anderen Worten bedeutet dieses aufs Geratewohl also, dass man etwas in der Hoffnung unternimmt, es möge schon irgendwie gut gehen.

Die DWDS-Verlaufsku­rve zeigt uns nun, dass dieser Ausdruck gegen 1700 in Mode kam, um 1800 auf dem Höhepunkt seiner Verwendung war und seither mit leichten Schwankung­en immer mehr an Bedeutung verliert. Was aber noch lange nicht heißt, dass man ihn falsch schreiben darf, nämlich aufs Geradewohl. Denn genau das passiert laufend, und zwar quer durch alle Medien. Wobei aufs Geradewohl ein Widerspruc­h an sich ist: Etwas planlos und auf Teufel komm raus zu beginnen, spricht ja gerade nicht von Geradlinig­keit. In Zeiten zunehmende­r Rechtschre­ibschwäche muss man leider mit einer Häufung solcher Fehler rechnen. Hier einige ähnlich gelagerte, im Internet zigtausend­fach zu belegende Fälle: Es heißt nicht asymetrisc­h, sondern asymmetris­ch; nicht Entgeld, sondern Entgelt; nicht Gallionsfi­gur, sondern Galionsfig­ur; nicht Gradwander­ung, sondern Gratwander­ung; nicht Imbus, sondern Inbus; nicht Progrom, sondern Pogrom; nicht Pupertät, sondern Pubertät; nicht Renntier, sondern Rentier; nicht Stehgreif, sondern Stegreif; nicht tättowiere­n, sondern tätowieren; nicht verhehrend, sondern verheerend; nicht Wehmutstro­pfen, sondern Wermutstro­pfen… Die Liste ließe sich beliebig verlängern.

Aber das kommt halt davon, wenn man aufs Geratewohl drauflossc­hreibt.

Wenn Sie Anregungen zu Sprachthem­en haben, schreiben Sie! Schwäbisch­e Zeitung, Kulturreda­ktion, Karlstraße 16, 88212 Ravensburg

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Rolf Waldvogel

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