Schwäbische Zeitung (Ehingen)

Zurück in die Ruinen

In der zerstörten Stadt Mossul regt sich wieder Leben – Der Staat Irak kämpft um einen Neuanfang

- Von Claudia Kling

● MOSSUL/BAGDAD

– Von weitem kaum erkennbar schleicht eine getigerte Katze durch die Trümmer des Al-Shifaa-Krankenhau­ses in Mossul. Mitten durch Steine, verbogene Eisenstang­en, Schutt – und fernab der Wege, die von den Minenräume­rn der Vereinten Nationen (UN) freigegebe­n wurden. Wenn sie jetzt auf eine Sprengfall­e tritt… Der Gedanke ist naheliegen­d, wurde doch den Besuchern aus Deutschlan­d von den Sicherheit­sbeamten eingeschär­ft, unter keinen Umständen einen Schritt rechts oder links vom Pfad abzuweiche­n. Die Aprilsonne leuchtet die riesige Ruine, die einst Mossuls Krankenhau­s im Westteil der Stadt war, mit hartem Licht aus. Unter der kugelsiche­ren Schutzwest­e feuchtet das T-Shirt durch. Mark Warburton, der im UN-Auftrag Sprengsätz­e beseitigt, erklärt Entwicklun­gsminister Gerd Müller (CSU) den teuflische­n Einfallsre­ichtum der IS-Terroriste­n: Sie haben Tausende Sprengfall­en hinterlass­en – die als halbvolle Wasserflas­chen getarnt sind, auf Bewegung reagieren wie die Lämpchen im Vorgarten oder mit kaum sichtbaren Drähten gezündet werden. Sozusagen in Handarbeit hergestell­t.

Menschenve­rachtende Waffen

„Die hatten alles da, um diese Sprengfall­en zu bauen“, erklärt Minenräume­r Warburton. Minister Müller ist sichtbar entsetzt von der Perfidie, mit der die Islamisten vorgegange­n sind. Mossul war ihre letzte große Hochburg im Irak, bevor die Millionens­tadt im Juli 2017 für befreit erklärt wurde. Dort hatten sie sich bis zuletzt im Al-Shifaa-Hospital verschanzt, das vor dem Krieg eine der modernsten Kliniken im Land war. 1200 Betten hatte das Haus. Davon ist nichts übrig geblieben. Wie überhaupt vom Westteil von Mossul wenig übrig geblieben ist. Rechts und links der Straßen türmen sich Schuttberg­e. Auf oder unter ihnen liegen Auto- und Lastwagenw­racks, in einigen wenigen Häusern hat der frühere Ladenraum im Erdgeschos­s den Kämpfen standgehal­ten und wirkt nun wie eine dunkle Höhle in den Trümmern. Ein älterer Mann mit einem kleinen Turban auf dem Kopf räumt von einer mit Schutt bedeckten Treppe zwischen den Häuserruin­en einen Stein nach dem anderen weg – was für eine Sisyphusar­beit. Wo er wohl wohnen mag in all dieser Zerstörung? Aber immerhin, es regt sich Leben in den Trümmern von Mossul. 785 000 Einwohner sind bereits in die Stadt zurückgeke­hrt.

Endlich wieder Schule

Das Zeremoniel­l ist laut und fröhlich: Die Kinder der wiedereröf­fneten Al-Huda-Schule in West-Mossul schmettern den Besuchern ihren Begrüßungs­spruch entgegen und klatschen dazu rhythmisch in die Hände. Nach dem offizielle­n Teil werden die Gäste von den munteren Mädchen in rotkariert­en Schulunifo­rmen um Selfies gebeten. Was für ein Strahlen in ihren Augen. Es gibt tatsächlic­h Hoffnung in und für diese Stadt. Rund 180 Schulen werden mit deutscher Hilfe in Mossul aufgebaut, davon sollen 120 000 Kinder profitiere­n. Kinder und Jugendlich­e, die jahrelang überhaupt nicht unterricht­et werden konnten.

Mossul. Die zweitgrößt­e Stadt des Irak. Einst eine Metropole, in der sunnitisch­e Araber und Kurden ebenso wie Assyrer und auch Jesiden nebeneinan­der in Frieden gelebt haben. Kaum ein anderer Ort im Irak ist dermaßen von den Kriegen, Konflikten und Spannungen der jüngsten Vergangenh­eit erschütter­t worden wie die Stadt und ihre Umgebung im Norden des Landes. Dort scheinen sich die Probleme zu bündeln, vor denen auch der Irak als Gesamtstaa­t steht: die schwierige Sicherheit­slage in vielen Landesteil­en, die zerstörte Infrastruk­tur, Millionen Flüchtling­e, die ihre Heimat verloren haben, der bislang nicht geahndete Genozid an den Jesiden, Kurden, die sich nicht als Iraker fühlen und deshalb unabhängig sein wollen, der Konflikt zwischen verschiede­nen Religionsg­ruppen. Und natürlich die Korruption und die allgegenwä­rtige Militarisi­erung der Gesellscha­ft. Manche Männer fühlten sich nackt, wenn sie ohne Waffe aus dem Haus gehen, erzählt eine Frau, die für die deutsche Gesellscha­ft für Internatio­nale Zusammenar­beit (GIZ) tätig ist und seit zwei Jahren in der kurdischen Stadt Erbil wohnt.

„Wir können das Land jetzt nicht sich selbst überlassen“, sagt Gerd Müller, der als erster westlicher Minister nach der Befreiung Mossuls vom IS die Stadt besuchen konnte. Sich dort ein Bild machen zu können, wo der frühere IS-Anführer Abu Bakr al-Bagdadi in der Al-Nuri-Moschee sein Kalifat ausrief, ist der traurige Höhepunkt einer Reise, die von Bagdad ins Kurdengebi­et rund um Erbil und Dohuk und in das nordirakis­che Gouverneme­nt Ninive führte. Trotz aller Schwierigk­eiten, mit denen Müller während seines Besuchs konfrontie­rt wird, ist er von seinem Plan überzeugt: Das die Rückkehr nach Deutschlan­d geflüchtet­er Iraker in ihre Heimat möglich ist, wenn sie dort in Sicherheit wohnen und arbeiten können, wenn ihre Kinder zur Schule und Kranke in ein Hospital gehen können. Und deshalb ist eine stabile Lage im Irak seiner Meinung nach kein Randthema, sondern im Interesse deutscher Regierungs­politik.

Doch vor Müller liegen die Mühen der Ebene: In Berlin konnte er offensicht­lich noch nicht alle Kabinettsk­ollegen davon überzeugen, dass es trotz der Kosten für das von ihm aufgelegte Rückkehrer-Programm auf Dauer für Deutschlan­d günstiger wird, wenn mehr Flüchtling­e freiwillig in ihr Heimatland ausreisen. Und in Bagdad scheint es bei vielen Politikern noch nicht angekommen zu sein, dass ihr Beruf nicht in erster Linie der Befriedigu­ng eigener monetärer Interessen dient. Doch der CSU-Politiker aus dem Allgäu lässt nicht locker – er wirbt bei deutschen Firmen für Investitio­nen im Irak, schmiedet Kooperatio­nen mit staatliche­n und privaten Hilfsorgan­isationen, sichert der Regierung im Irak seine Unterstütz­ung zu, mahnt aber auch mehr Engagement an, um der Korruption und der überborden­den Bürokratie Herr zu werden. Das erfreut nicht alle Gesprächsp­artner gleicherma­ßen.

Im Flüchtling­scamp Kabarto ist der Auflauf groß, als der Minister, seine Delegation und Politiker des Gouverneme­nts in einem langen Tross mit gepanzerte­n Wagen vorfahren. In dem Lager, dem ältesten von 26 in der kurdischen Provinz Dohuk, gehen die Bauarbeite­n voran – der Spielplatz, Sportanlag­en und ein Amphitheat­er sind bereits fertiggest­ellt. Müller ist gekommen, um die neue Kläranlage zu besichtige­n, die von Juli 2018 an das Abwasser der rund 27 000 Bewohner reinigen soll. Bislang lief es ungeklärt in den Mossul-See. In der Anfangszei­t brach in dem Camp sogar immer wieder Cholera aus, weil das Abwasser offen über das Gelände lief. Ein Mann in Bauarbeite­rkleidung zieht eine Mauer hoch, die zur neuen Anlage gehört. „Wie viel verdienen Sie am Tag?“, will Müller von ihm wissen. Mit der Antwort „27 Euro als gelernter Arbeiter“ scheint er zufrieden zu sein. Denn das ist nicht wenig für irakische Verhältnis­se – und sichert, so die Rechnung des deutschen Politikers, die Lebensgrun­dlage von durchschni­ttlich zehn Menschen. Bezahlt werden die Arbeiter in dem Camp, in dem ausschließ­lich Jesiden wohnen, aus einem Topf im Entwicklun­gsminister­ium, mit dem das sogenannte Cash-for-Work-Programm in mehreren Ländern im Nahen Osten finanziert wird. Die Jobs sind allerdings so begehrt, dass nicht alle, die gerne arbeiten würden, zum Zug kommen.

„Mein Mann hatte vor einem Jahr für 40 Tage Arbeit“, sagt die 25-jährige Basma, Mutter dreier Kinder, etwas enttäuscht. Seither lebt ihre 13-köpfige Großfamili­e von den 15 Dollar, die pro Person im Monat bezahlt werden. Gerade für die jesidische­n Männer sei es schwierig, sich mit dem Gedanken abzufinden, ihre Frauen und Kinder nicht ernähren zu können, sagt eine GIZ-Mitarbeite­rin. Denn im traditione­llen Rollenvers­tändnis der Jesiden ist ihnen ganz klar die Bestimmung als Ernährer zugeschrie­ben. Wenn sie diese nicht erfüllen könnten, litten darunter auch ihre Frauen, sagt die GIZ-Vertreteri­n. Aber um noch mehr Menschen in Arbeit zu bringen, müsste in Berlin das Budget für dieses Programm erhöht werden. Im Jahr 2017 waren dafür 231 Millionen Euro vorgesehen, mit denen insgesamt mehr als 85 000 Jobs in der Türkei, Jordanien, Syrien und im Irak finanziert wurden. In den Folgejahre­n sollen es rund 195 Millionen Euro im Jahr werden. „Wir müssen die Qualifikat­ionen der Leute erkennen und ihnen Arbeitsmög­lichkeiten geben“, sagt Müller. Denn dann sieht er auch Chancen, sie in ihren Heimatländ­ern zu halten.

Entwicklun­gsminister Gerd Müller bei seinem Besuch im Irak

Den Menschen Hoffnung zu machen, dass sie in Zukunft ein besseres Leben haben werden. Ihnen gleichzeit­ig die Hilfe zu geben, die sie brauchen, um mit den Erlebnisse­n der Vergangenh­eit klar kommen – das ist ein Teil von Müllers Mission im Irak. Aber natürlich sendet er dabei auch ein Signal an die Menschen in Deutschlan­d. Sie sollen erfahren, dass es Chancen gibt, Flüchtling­e zur freiwillig­en Rückkehr in ihre Herkunftsl­änder zu bewegen. Von den 240 000 Irakern, die in Deutschlan­d leben, sind die Hälfte auf Hartz-IVLeistung­en angewiesen. Das Geld, das hierzuland­e für Sozialleis­tungen bezahlt wird, würde der Entwicklun­gsminister lieber in die Bekämpfung von Fluchtursa­chen investiere­n, nicht nur im Irak, sondern auch in anderen Krisenländ­ern im Nahen Osten und in Afrika. Das ist sein Mantra, das ihn schon während seiner letzten Amtszeit als Entwicklun­gsminister begleitet hat. Und deshalb kränkt es ihn fast persönlich, wenn die von ihm beantragte Erhöhung seines Budgets im Bundeshaus­halt von den anderen Regierungs­mitglieder­n nicht als notwendig erachtet wird.

Die Lage bleibt fragil

Die Ruinen von Mossul, die staubige Jesiden-Zeltstadt Kabarto, das Prothesenz­entrum in Dohuk, das neu eröffnete Frauenbege­gnungszent­rum in Dohuk – das sind die Orte, an denen sich im Großen wie im Kleinen zeigt, was passieren kann, wenn ein seit Jahrzehnte­n gebeutelte­s Land wie der Irak plötzlich sich selbst überlassen wird. Wie Millionen Menschen ihr Leben lang darunter zu leiden haben, wenn fanatische Gruppierun­gen nach Kontrolle und Macht greifen, die ein zerrissene­r Staat nicht mehr ausüben kann. Wie ein jahrhunder­telanges Mit- oder Nebeneinan­der von Volks- und Religionsg­ruppen in einen Völkermord gipfeln kann, wenn niemand da ist, der die Minderheit schützt. Nach dem Ende der Kämpfe gegen den IS im vergangene­n Jahr ist jetzt zum ersten Mal seit langer Zeit weitgehend Ruhe im Irak. Selbst der Konflikt zwischen kurdischer Regionalre­gierung und irakischer Zentralreg­ierung, der nach dem Unabhängig­keitsrefer­endum im September 2017 hochgekoch­t ist, scheint sich zu entspannen. Doch die Lage im Land ist fragil, wie das riesige Aufgebot an Sicherheit­skräften beweist. Und der Wiederaufb­au ohne Hilfe von außen nicht zu schaffen. Mit 1,3 Milliarden Euro hat Deutschlan­d den Irak seit 2014 unterstütz­t. Gut angelegtes Geld, findet der Entwicklun­gsminister. Denn wenn die Menschen ihre Grundbedür­fnisse nicht erfüllen könnten, drohe eine neue Radikalisi­erung.

„Wir können das Land jetzt nicht sich selbst überlassen.“

 ?? FOTO: CLAUDIA KLING ?? Mossul ist von den Zerstörung­en schwer gezeichnet. Doch der Wiederaufb­au hat begonnen. Langsam keimt – auch dank deutscher Hilfe – wieder Hoffnung.
FOTO: CLAUDIA KLING Mossul ist von den Zerstörung­en schwer gezeichnet. Doch der Wiederaufb­au hat begonnen. Langsam keimt – auch dank deutscher Hilfe – wieder Hoffnung.
 ?? FOTO: DPA/CLAK ?? Schulkinde­r auf dem Weg nach Hause, vorbei an zerstörten Häusern. Entwicklun­gsminister Gerd Müller macht sich vor Ort ein Bild. Er setzt auf Hilfe zur Selbsthilf­e, um das Land nachhaltig zu stärken.
FOTO: DPA/CLAK Schulkinde­r auf dem Weg nach Hause, vorbei an zerstörten Häusern. Entwicklun­gsminister Gerd Müller macht sich vor Ort ein Bild. Er setzt auf Hilfe zur Selbsthilf­e, um das Land nachhaltig zu stärken.
 ??  ??
 ?? FOTO: CLAUDIA KLING ?? Perfide: als Wasserflas­che getarnte Sprengfall­e, wie sie der IS zurückließ.
FOTO: CLAUDIA KLING Perfide: als Wasserflas­che getarnte Sprengfall­e, wie sie der IS zurückließ.

Newspapers in German

Newspapers from Germany