Udo Schink:
Der Creglinger Gastwirt kocht und bedient selbst – obwohl er blind ist.
Groß und stattlich steht der Wirt mitten in seiner Gaststätte in Creglingen. Er hat offenbar gehört, dass Kundschaft kommt. Udo Schink, Jahrgang 1959, hat längere dunkle Haare, Typ ruhig gewordener Biker.
Mit einer Maschine wird er nicht mehr durch die Lande cruisen, wenn, dann als Sozius. Schink hat ein Sehfeld, das kaum stecknadelkopfgroß ist. Wohl der einzige Gastwirt in Deutschland, der nichts sieht, aber selbst kocht, selbst bedient.
Wir wollen den weltberühmten Tilman-Riemenschneider-Altar anschauen, in der Herrgottskirche gleich gegenüber. Landen per Zufall, dank Hunger und Durst, in der Kohlesmühle. Nachmittags, außerhalb der Zeit, in der andere Gaststätten geöffnet haben. Ob es etwas zu essen gebe, fragen wir beim Eintreten. Und ob der Hund mit rein dürfe. Selbstverständlich, sagt der Mann. Aber den Hund bitte unter den Tisch, damit er nicht darüber stolpere. „Ich bin nämlich blind.“Überraschung.
Schink bringt die gewünschte Apfelschorle, reicht Flasche und Gläser an. Bald tischt er den „Wilderertopf“auf, in einem hübschen blauen emaillierten Blechtiegel. Zwei tiefe Teller und Löffel sind auch dabei. Das Wild kommt aus dem Taubertal, dort tummeln sich Hase, Reh und Hirsch. Die Portion ist anständig. Keine Haute Cuisine, aber dampfend und schmackhaft. Zum ehrlichen Preis. Das Brot hat die Bäckerei aus Creglingen vorgeschnitten. Udo Schink hat sich vor einiger Zeit mit der Brotschneidemaschine in der Küche einen Finger längs gespalten. „Brotmaschine und Blindsein, das passt nicht zusammen“, hat er erkannt. In die Fritteuse hat er auch mal gefasst, einen kurzen Moment unkonzentriert. Gaststätte und Küche sind für Schink wie ein großes Puzzle, wie ständiges Memory. Er muss sich dauernd merken, wo etwas steht, und wer wo sitzt. In der Küche und hinter der Theke hat alles seinen festen Platz.
Am liebsten arbeitet er allein
Im Gastraum und auf der Terrasse orientiert er sich an Stimmen, Geräuschen, Vibrationen. Am liebsten arbeitet er allein. Dann bringt keiner etwas durcheinander. Wenn er auf dem Weg zu seinen Gästen doch einmal stürzt, etwa weil einer unbesonnen seine Beine ausstreckt? Das hat ihn einmal ein anderer Blinder gefragt, Blindenverbände schicken immer wieder Betroffene zum Gastwirt in die Kohlesmühle. „Was soll denn dann sein“, hat Schink geschnaubt, „wenn ich hinfalle, stehe ich wieder auf.“
Blind ist Udo Schink seit dem Jahr 1999. Eine Erbkrankheit, Retinis pigmentosa. Dabei sterben allmählich, unaufhaltsam, die Sinneszellen der Netzhaut ab. Betroffen sind in Deutschland etwa 30 000 Menschen. Tragen beide Elternteile das fehlerhafte Gen, ist die Wahrscheinlichkeit groß, dass eines der Kinder erblinden wird. „Ich habe vier Geschwister, mich hat es erwischt“, sagt Schink.
Kochen von der Pike an gelernt
Ein Schicksalsschlag. In einem Leben, das ungewöhnlich verläuft, mit guten und mit harten Zeiten. Seine Eltern haben eine Gastwirtschaft in Ebingen, Zollernalbkreis. Der junge Udo lernt Metzger, nebenbei das Kochen. „Von der Pike an“, betont er. Er nimmt Jobs in der Gastronomie in ganz Europa an. Eine Zeit lang handelt er mit Buntmetallen, dann macht er drei Tage Kurzurlaub in Tschechien. Daraus werden 18 Jahre. Er lernt eine Frau kennen, wohnt in Prag, bei Prag. Das Paar bekommt zwei Kinder, Alexander und Alexandra. Udo Schink erblindet vier Jahre nach der Geburt seines Sohnes. Seine Frau erkrankt an Krebs, Schink pflegt sie bis zu ihrem Tode 2007. Jetzt ist er alleinerziehender blinder Vater. Die tschechischen Behörden wollen ihm die Kinder wegnehmen, obwohl er mit Liebe für sie sorgt. Schink verlässt Tschechien über Nacht, mit Tochter und Sohn. 2009 ist er zurück in Deutschland. Fällt hier durchs soziale Netz. Ansprüche auf eine Invalidenrente hat er während der Jahre in Tschechien nicht erworben. Der Amtsarzt der Arbeitsagentur erklärt ihn für „nicht vermittelbar“. Er lebt von Grundsicherung, pflegt in Tailfingen bei Albstadt seinen Vater, der schließlich auch an Krebs stirbt. Aber: Von Tailfingen tut sich auch die neue Chance auf. Die Chance auf ein selbstbestimmtes, selbst finanziertes Leben. Ohne Sozialfall zu sein.
Seine Kinder entdeckten das Lokal
Seine Kinder entdecken im Internet das Lokal in Creglingen, geschlossen, völlig heruntergewirtschaftet. Der Besitzer – er wohnt im weitläufigen Untergeschoss – vertraut Udo Schink, gibt ihm den Pachtvertrag. Im März 2011 startet der künftige Gastwirt. „Vier kahle Wände, desolater Zustand.“Drei Monate lang arbeiten seine Kinder, seine damalige Lebensgefährtin und er an der Renovierung, rund um die Uhr. Mit 400 geliehenen Euro und einem Erstbestand an Getränken von einer Ochsenfurter Brauerei startet er. „Mit der habe ich mittlerweile ein fast familiäres Verhältnis“, sagt Schink. „Ich kaufe auch alles beim örtlichen Metzger, Bäcker, Blumenladen. Ausbeutung wie bei den großen Lebensmittelketten unterstütze ich nicht.“
Alles absolute Handarbeit
Die ersten Jahre bietet er eine große Karte an, 14 verschiedene Gerichte, Schwerpunkt böhmische Küche, dazu Eis und Kuchen. Es gibt Tage, an denen er rund 70 Essen zubereitet. Da hilft ihm seine Tochter, die nicht mehr da ist. Jetzt gibt es nur noch Brotzeiten, besagten Wilderertopf, Gulaschtopf, böhmische Kartoffelsuppe und so. „Alles absolute Handarbeit, ohne Gluten, ohne Zusatzstoffe.“Als Soßenbinder verwendet er reichlich zerkochte Sellerie.
Geöffnet hat er jeden Tag, „einen Ruhetag kann ich mir nicht leisten“. Ihm hilft seine Frau Carmen, er hat vor zweieinhalb Jahren wieder geheiratet. „Zufällig beim Einkaufen kennengelernt.“Viele Stammgäste sind ihm treu, haben auch dazu beigetragen, dass die Gaststube mit Flohmarkt-Raritäten bunt dekoriert ist. Alte Gewehre, Säbel, Fahnen, Bilder, ein Kugelfisch, präparierte Raubvögel, ein Longhorn in der Texasstube, und, und. Fahrradfahrer kehren hier ein, Biker, Besucher der Herrgottskirche. In ein akribisch sauberes Gasthaus, nirgendwo auch nur ein Ansatz von Schmuddel. Er fühle mit seinen Händen ganz genau, wo es klebrig oder verschmutzt ist. Norbert „die Rente ist sicher“Blüm war mit Frau auch schon da, während seiner Kur in Bad Mergentheim.
Neben Musikbox und den mit Fantasie gestalteten Tischen steht eine elektronische Dartscheibe vorne in der Gaststube, gleich neben dem „Piratentisch“. Udo Schink beherrscht das Spiel mit den spitzen Pfeilen, geht oft als Sieger hervor. Jetzt hat er Buttons anfertigen lassen. Darauf steht: „Ich wurde von einem Blinden im Dart geschlagen.“
Das Gasthaus „Kohlesmühle“findet man bei der Herrgottskirche, zwei Kilometer abseits des Ortszentrums Creglingen. Geöffnet ist es durchgehend, ohne Ruhetag. Ein vor Jahren vom Bayerischen Rundfunk gedrehter Film über Udo Schink ist nach wie vor bei Youtube aufrufbar (www.youtube.com/ watch?v=Ztqve16yIRs).