Schwäbische Zeitung (Ehingen)

London stochert beim Brexit im Nebel

- Von Sebastian Borger, London

I● m britischen Unterhaus Frohsinn zu verbreiten, gelingt Jeremy Corbyn selten. Am Mittwoch hatte der Labour-Opposition­sführer eine solche Sternstund­e. Am Wochenende habe Großbritan­niens Premiermin­isterin Theresa May doch „so wenig Unstimmigk­eit wie möglich“versproche­n, zitierte der 68-Jährige aus einem Zeitungsar­tikel und fragte: „Bezog sich das auf den Handel mit der EU oder auf die nächste Kabinettss­itzung?“Da lachten selbst die Torys auf den Bänken hinter May.

Sechs Wochen vor dem nächsten EU-Gipfel und ein knappes Jahr vor dem geplanten Austritt aus der EU macht die Brexit-Politik der Regierung einen desolaten Eindruck. Zum zweiten Mal ging das Kabinett in dieser Woche ohne eine Antwort auf die Frage auseinande­r, wie die zukünftige­n Handelsbez­iehungen mit den 27 EU-Partnern organisier­t werden. „Die Aufgabe ist schwer“, lautete Mays Antwort, ehe sie ein neues Brexit-Weißbuch ankündigte.

Zerstritte­ne Torys

Die Konservati­ven streiten derzeit über den Brexit. „Verrückt“, nannte Außenminis­ter Boris Johnson die von May bevorzugte „Zoll-Partnersch­aft“, auch Umweltmini­ster Michael Gove meldete öffentlich schwere Bedenken an. Dabei würde das Vereinigte Königreich wie bisher die in der EU geltenden Zölle und Gebühren auf von außerhalb der EU importiert­e Güter erheben und das Geld an die Brüsseler Kasse abführen.

Das Verfahren wird von der EUKommissi­on als ebenso undurchfüh­rbar abgelehnt wie eine zweite Variante. Dafür müssten Grenzüberg­änge elektronis­ch aufgerüste­t und Ausnahmen für vertrauens­würdige Händler erarbeitet werden. Beide Varianten würden zumindest auf dem Papier den harten Brexit-Kurs der May-Regierung aufrechter­halten. Dieser sieht noch immer den Austritt aus der EU, ihrem Binnenmark­t und der Zollunion vor. Man wolle auch nicht, wie von der Labour-Opposition gefordert, in einer Zollunion mit Brüssel bleiben, heißt es aus der Downing Street. Man wolle eine ganz neue Vereinbaru­ng, die den Bedürfniss­en der britischen Wirtschaft entspricht. Deren Vertreter werden zunehmend unruhig. Der Tenor: Die Unsicherhe­it erschwere Investitio­nen, man müsse ernsthaft über die Verlegung von Produktion­sstätten nachdenken.

Der Industriev­erband CBI befürworte­t den Verbleib in der Zollunion mit der EU, auch mit Blick auf Nordirland. Denn dadurch, argumentie­ren die Lobbyisten ebenso wie die Opposition, könnte das Problem der Grenze zwischen dem britischen Nordirland und der Republik im Süden weitgehend gelöst werden. Hingegen würde jede Einschränk­ung des bisher ungehinder­ten Grenzverke­hrs das Zusammenle­ben der Gruppen in der einstigen Bürgerkrie­gsprovinz wieder erschweren. Erstmals, darauf deuten unveröffen­tlichte Umfragen der Regierung hin, spricht sich für den Fall des harten Brexits eine Mehrheit der Nordiren für die Wiedervere­inigung mit dem Süden aus. Beim EUReferend­um befürworte­ten 56 Prozent den Verbleib.

Ungemach droht London auch aus Schottland, wo die Zustimmung für die EU gar bei 62 Prozent lag. Am Dienstag verweigert­e das dortige Parlament dem britischen EU-Austrittsg­esetz die Zustimmung und beschwor damit eine Verfassung­skrise herauf. Inhaltlich geht es um die zukünftige Verantwort­ung für die Agrar- und Fischereip­olitik, die bisher zentral von Brüssel aus entschiede­n wurde.

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