Schwäbische Zeitung (Ehingen)

Erdogan siegt in Deutschlan­d

Im Süden wählen ihn mehr als 60 Prozent der Türken

- Von Birgit Letsche und Anna Kratky

STUTTGART/BERLIN (dpa/sz) - In Deutschlan­d ist der Wahlsieg des türkischen Präsidente­n Recep Tayyip Erdogan noch deutlicher ausgefalle­n als in dessen Heimat selbst: In allen 13 Wahllokale­n in der Bundesrepu­blik erhielt der Politiker der islamisch-konservati­ven AKP die absolute Mehrheit. Rund die Hälfte der 1,44 Millionen wahlberech­tigten Türken in Deutschlan­d hatten abgestimmt. Nach Auszählung aller Stimmen ist das Ergebnis klar: 64,78 Prozent votierten laut der staatliche­n Nachrichte­nagentur Anadolu für Erdogan, 21,88 Prozent für seinen Konkurrent­en Muharrem Ince von der Mitte-Links-Partei CHP.

Im Süden fielen die Ergebnisse ähnlich aus. In Stuttgart stimmten 68,8 für Erdogan und 18,7 für Ince, in Karlsruhe 63,5 für Erdogan und 22,1 für Ince, in München 65,5 für Erdogan und 26,4 für Ince. In vielen deutschen Städten feierten Türken Erdogans Sieg mit Autokorsos.

RAVENSBURG - Deutschlan­d ist für den türkischen Staatspräs­identen Recep Tayyip Erdogan bei Wahlen schon seit Jahren eine sichere Bank. Diesmal lief es aber besonders gut für ihn. 64,78 Prozent der in Deutschlan­d lebenden Türken votierten nach Angaben der staatliche­n Nachrichte­nagentur Anadolu für ihn – im Vergleich zu 52,6 Prozent insgesamt. Seinen stärksten Mitbewerbe­r Muharrem Ince von der linksliber­alen Opposition­spartei CHP (21,9 Prozent zu 30,6 Prozent insgesamt) distanzier­te er weitaus deutlicher als zu Hause in der Türkei.

„Das war abzusehen“, kommentier­t Fuat Karaismail­oglu (Foto: oh) trocken. Der 41-Jährige ist der Vorsitzend­e des Türkischen Kultur- und Bildungsve­reins von Bad Wurzach, das aufgrund der Glasindust­rie eine sehr große türkische Gemeinde hat. Allein die geringe Wahlbeteil­igung hat ihn überrascht – nur rund die Hälfte seiner 1,44 Millionen wahlberech­tigten Landsleute haben ihre Stimme überhaupt abgegeben. Die Gründe für die Erdogan-Begeisteru­ng liegen für den gelernten Versicheru­ngsfachman­n auf der Hand: Protest. „Das ist das Resultat einer vernachläs­sigten Integratio­nspolitik. Erdogan spricht aus, was die Deutschtür­ken denken.“Von ihm fühlten sie sich ernst genommen und verstanden, was man von den deutschen Politikern nicht sagen könne.

Zumindest mit dieser Einschätzu­ng liegt Karaismail­oglu, der seinen 15-jährigen Sohn auf das christlich geprägte Salvator-Kolleg in Bad Wurzach schickt und seit 15 Jahren ehrenamtli­cher Bewährungs­helfer beim Landgerich­t Ravensburg ist, auf gleicher Linie mit Cem Özdemir, dem früheren Grünen-Chef. „Man muss feststelle­n, dass Erdogan immer noch eine starke Machtbasis hat, auch unter den hier lebenden Deutsch-Türken“, sagt der Bundestags­abgeordnet­e. „Was wir nun brauchen, ist eine gute Integratio­nspolitik, die sich gegen Diskrimini­erung stellt, das Bildungsve­rsprechen erneuert und Chancenger­echtigkeit durchsetzt.“Fuat Karaismail­oglu formuliert das direkter. „Die deutschen Politiker sollten mehr mit uns reden als über uns. Von denen lässt sich doch kaum jemand bei unseren Veranstalt­ungen blicken. Wir wurden viel zu lange vernachläs­sigt.“

In Stuttgart hat Erdogan 68,8 Prozent, in Karlsruhe 63,5 und in München 65,5 Prozent der Stimmen bekommen. Der Südwesten liegt damit im bundesweit­en Durchschni­tt – aber noch weit unter dem Ruhrgebiet. In Düsseldorf schaffte der langjährig­e Staatspräs­ident von der islamisch-konservati­ven Regierungs­partei AKP 70 Prozent und in Essen sogar 76,9 Prozent. Gökay Sofuoglu, Vorsitzend­er der Türkischen Gemeinde in Baden-Württember­g und Deutschlan­d, zeigte sich auf Nachfrage der „Schwäbisch­en Zeitung“überrascht. „Das Ergebnis in Deutschlan­d hätte ich so nicht erwartet. Die AKP hatte eine stärkere Mobilisier­ungskraft als die Opposition­ellen“, sagt er. Heimlich habe er darauf gehofft, dass es zu einem zweiten Wahlgang komme.

Auf Unverständ­nis stößt der Wahlausgan­g auch beim Landesvors­itzenden der Alevitisch­en Gemeinde. „Das

ISTANBUL - Fast zwei von drei Wählern in der Türkei haben eine konservati­ve oder nationalis­tische Partei gewählt. Im Parlament ist Präsident Recep Tayyip Erdogan nun nicht auf liberale Reformkräf­te angewiesen, wie es sich die Opposition vor der Wahl erhofft hatte, sondern auf die Unterstütz­ung der Rechtsnati­onalisten. Das wird sich auf den Kurs des Landes auswirken, der jetzt noch stärker auf eine Großmachts­position ausgericht­et sein wird.

Neben der Erdogan-Partei AKP, die trotz Stimmenver­lusten auf 42 Prozent kam, verbuchte die rechtsextr­eme MHP 11,2 Prozent, während die nationalis­tische Iyi Parti, eine Abspaltung der MHP, bei 10,4 Prozent landete. Da AKP und MHP als Bündnispar­tner in die Wahl gegangen waren, wird sich Erdogan vor allem auf die Rechtsauße­n-Partei stützen, um sich Mehrheiten im Parlament zu suchen. Die türkische Journalist­in Ceren Kenar wies auf Twitter darauf hin, ist für mich sehr paradox. Das verstehe ich nicht. Wir leben hier in einem demokratis­chen Land. Wie man dann für so ein System stimmen kann, verstehe ich nicht“, sagt Ergin Özcan. Gleich nach der Wahl habe er von vielen anderen Vorsitzend­en Nachrichte­n erhalten. Viele seien sehr enttäuscht. Die Hoffnung sei groß gewesen, dass sich etwas ändert. „Aber genau darum müssen wir jetzt weitermach­en.“ Zudem ist die säkularist­ische Opposition­spartei CHP, deren Präsidents­chaftskand­idat Muharrem Ince mit einem beherzten Wahlkampf für Schlagzeil­en gesorgt hatte, für viele konservati­ve Türken schlicht unwählbar, wie Kenar betonte: Die CHP steht bei diesen Wählern für die Diskrimini­erung der frommen Muslime in der Zeit vor Erdogans Regierungs­übernahme vor anderthalb Jahrzehnte­n. Ince musste sich am Ende mit knapp 31 Prozent der Stimmen zufriedeng­eben. Das überrasche­nd gute Ergebnis der MHP bewahrte Erdogan davor, mit einem von der Opposition beherrscht­es Parlament zurechtkom­men

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FOTO: DPA In Deutschlan­d lebende Türken feiern den Wahlsieg von Recep Tayyip Erdogan mit zahlreiche­n Autokorsos durch die Städte.
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