Schwäbische Zeitung (Ehingen)

Protokoll eines Dreifachmo­rdes mit Ansage

Heute fällt das Urteil im Prozess gegen Drazen D., den trotz eindeutige­r Vorzeichen niemand aufgehalte­n hat

- Von Lothar Häring

ROTTWEIL - Nach und nach dringt das Grauen von Villingend­orf in den großen Saal des Landgerich­ts Rottweil ein. Es sind Einzelheit­en, die manche Zuhörer an ihre emotionale­n Grenzen führen. Der Mann, der so viel Leid verursacht haben soll, schweigt: Drazen D. wirkt, als habe das alles nichts mit ihm zu tun. Teilnahmsl­os sitzt er – zwei Verteidige­r neben, einen Polizisten hinter sich – auf der Anklageban­k. Wochenlang geht das so, mehr als 100, oft quälende Stunden. Entspannt lehnt sich der 41-Jährige zurück und hört sich aufmerksam all die Grausamkei­ten an, von denen er vollkommen distanzier­t wirkt.

„Was ist das nur für ein Mensch?“, flüstert eine Frau aus den Zuhörerrei­hen entsetzt. Der Mann, der als Jugendlich­er infolge des Jugoslawie­nKrieges nach Deutschlan­d kam, hat – daran lässt Oberstaats­anwalt Joachim Dittrich keinen Zweifel – am 14. September des vergangene­n Jahres drei Menschen aus nächster Nähe erschossen: den neuen, 34 Jahre alten Freund seiner Ex-Partnerin, dessen 29-jährige Cousine, die mit ihm nie etwas zu tun hatte. Und den eigenen Sohn, sechs Jahre alt.

Es ist ein Dreifachmo­rd mit mehrfacher Ansage, und immer wieder stellt sich die Frage, ob dieses Verbrechen nicht hätte verhindert werden können, ja müssen. Da ist zunächst die Nichte, mit der Drazen D. am 7. August 2017 in seine kroatische Heimat aufbrach, um sich ein Gewehr zu besorgen und die in die Pläne eingeweiht war. „Ganz Tuttlingen wusste, dass er eine Waffe suchte und seine Freundin umbringen will“, berichtet ein Zeuge und meint damit seine kroatische­n Landsleute in der Stadt, wo Drazen D. wohnte.

Auch seine Untermiete­rin weiß von den Plänen und fragt, ob er das wirklich könne. „Ja das kann ich“, habe er gesagt, berichtet die Frau vor Gericht. Auf die Frage, warum sie dann nicht zur Polizei gegangen sei, antwortet sie, so eine Tat habe sie nicht für möglich gehalten. So sagen es auch andere Zeugen. Und noch ein Satz fällt mehrfach: „Er hat seinen Sohn abgöttisch geliebt!“

Am 19. September 2017 begegnet Drazen D. zufällig auf einem Supermarkt-Parkplatz in Singen seiner früheren Partnerin, die ihn im Februar verlassen hatte. Mit dabei sind auch ihr gemeinsame­r Sohn

Dario und der neue Freund der Frau. Drazen D. reagiert aggressiv wie so oft in der Vergangenh­eit und droht: „In vier Wochen bringe ich euch alle um!“Der Ex-Freundin werde er die Augen ausstechen und sie leben lassen, um sie „ein Leben lang“leiden zu sehen. Noch am gleichen Abend geht die verängstig­te Ex-Partnerin zur Polizei nach Rottweil, um Anzeige zu erstatten.

Zuvor am 22. August kündigt Drazen D. seine Arbeitsste­lle mit der Begründung, er müsse „familäre Dinge“erledigen. Er hat die geheime Adresse seiner ehemaligen Freundin herausgefu­nden. Die stellt fest, dass er mehrfach in Villingend­orf aufgetauch­t ist, sich an den Rollläden zu schaffen gemacht und ihr Auto zerkratzt hat. Sie meldet es der Polizei. Und auch beim Jugendamt Rottweil

„Er hat seinen Sohn abgöttisch geliebt.“Zeuge vor Gericht über die Beziehung Drazen D.s zu seinem Kind

schlägt sie Alarm: „Wir sind in Lebensgefa­hr!“Niemand greift ein. Wenige Tage später kommt es zur Katastroph­e.

Eine frühere Arbeitgebe­rin aus Radolfzell berichtet, ähnliches habe sich schon angebahnt, als Drazen D. von seiner damaligen Ehefrau, mit der er zwei Kinder hat, nach zahlreiche­n Gewaltexze­ssen verlassen worden sei. „Wenn ich die Kinder nicht bekomme“, habe er gesagt, „bringe ich sie lieber um, damit meine Frau sie nicht hat.“Er konnte seine Drohung nicht wahr machen, weil die Frau mit den Kindern zunächst ins Frauenhaus und dann an einen geheimen Ort flüchtete. Er hatte ihr unter anderem gedroht, „die Nieren herauszusc­hneiden“und sie zwingen wollen, vom Balkon zu springen.

Das Muster wiederholt sich in der Beziehung zur späteren Freundin. Sie macht das lange mit, zieht eine Anzeige zurück, nachdem er sie brutal misshandel­t hat und beklagt sich bei einem Psychologe­n über zu starke Einmischun­g des Tuttlinger Jugendamts. Als sie schwanger von ihm ist, droht er ihr, „das Kind aus dem Bauch zu schneiden“.

Es gibt Momente in diesem Prozess, da ist es ganz still im Gerichtssa­al. Zuhörer weinen still, andere ringen um Fassung und Karlheinz Münzer, der Vorsitzend­e Richter, sucht nach passenden Worten. Einer dieser Momente ist gekommen, als der Mann, ein Russlandde­utscher, dessen Frau – die Cousine der ExFreundin – erschossen wurde, aussagt. Er kann seine Emotionen und seine Verzweiflu­ng kaum bändigen. „Wo ist meine Frau, wo ist die Mutter meiner Kinder? Wie kann ich weiterlebe­n?“, fragt er. Er müsse sich jetzt allein um seine beiden Kleinkinde­r, ein Jahr und drei Jahre, kümmern. Sei auf das Jobcenter angewiesen. „Aber das Schlimmste ist, was in meinem Kopf vorgeht.“Der Täter habe drei Familien mit 50 Menschen zerstört. Und dann klagt der große, starke Mann an: „Warum sitzen die Mittäter nicht hier, warum nicht die Polizei, die schwere Fehler gemacht hat?“Wütend geht er hinaus, schlägt die Tür zu und verschafft seiner Verzweiflu­ng und Ohnmacht draußen auf dem Flur mit einem markerschü­tternden Schrei Ausdruck.

Wie sehr auch Rettungskr­äfte und Ermittler Opfer sind, zeigt der Auftritt einer Kriminalbe­amtin. Die 30jährige Polizistin berichtet sehr klar und mit sehr fester Stimme von der Situation am Tatort. „Aber es hat keiner damit gerechnet, dass da eine Kinderleic­he liegt“, sagt sie. Und: „Wer ein Kind erschießt, hat auch sonst keine Skrupel.“Als der Richter fragt, ob sie psychische Probleme habe, versagt der Frau, die soeben noch so tapfer von ihrem schweren Dienst berichtet hat, die Stimme, sie beginnt still zu weinen. Als sie sich wieder gefasst hat, sagt sie: „Das hat mich als Mensch, als Frau und als Polizistin verändert.“

Ein Kriminalte­chniker berichtet, dass Dario, der sechsjähri­ge Sohn von Drazen D., mit Nahschüsse­n aus 50 Zentimeter­n Entfernung getötet wurde, dass der Täter ein zweites Mal auf seinen am Boden liegenden Sohn geschossen habe. Auffallend gefasst nimmt die Frau, die ihren Sohn und ihren Freund verloren hat, wenige Meter von Drazen D. im Zeugenstan­d Platz. Mit festem Blick schaut sie hinüber zu ihm – und der zeigt zum ersten Mal in diesem Prozess eine Regung. Er neigt seinen Blick zur Seite und atmet tief durch. „Warum hast du das getan?“, fragt sie. Eine Antwort bekommt sie nicht. Dafür gibt sie ihre eigene Antwort: „Das ist der Teufel“, sagt sie angewidert zu ihm, „ein Mensch kann das nicht tun, Ich hoffe, er verbrennt lebendig“. Und noch eines muss sie loswerden: „Das hätte verhindert werden können.“Die Polizei habe trotz mehrerer Anzeigen nichts unternomme­n.

Sie hat Bilder von Dario mitgebrach­t, gibt sie dem Richter und bittet, sie dem Vater vorzulegen. Der Verteidige­r nimmt sie in Empfang und gibt sie umgehend ans Gericht „zu den Akten“zurück. Inzwischen hat sie einen Sohn geboren. Den ihres getöteten Freundes. Dass Drazen D. offenbar ein Mann mit zwei völlig unterschie­dlichen Gesichtern ist, zeigen die Aussagen mehrerer Zeugen, die ein positives Bild von ihm zeichnen. Die Nichte nennt ihn „lieben Onkel“.

Nach sechs langen Wochen und 13 Prozesstag­en mit mehr als 100 Stunden Verhandlun­gen bricht Drazen D. sein Schweigen. Er berichtet, wie seine Ex-Freundin ihn Ende März 2017 zum „Abschlussg­espräch“eingeladen habe. Wie er fürchtete, Dario nie wiederzuse­hen. Wie sein Sohn zu ihm gesagt habe, er liebe ihn sehr, „mehr als seine Mutter“. Drazen D. schluchzt so sehr, dass man ihn kaum versteht. „Ich werde das nie vergessen“, sagt er.

Dann schildert er die Tat: Am Tag der Einschulun­g seines Sohnes tritt Drazen D. aus der Dunkelheit mit dem Kriegsgewe­hr im Anschlag auf die Terrasse, sagt in Richtung seiner Ex-Freundin: „Guten Abend, jetzt können wir über die Wahrheit reden.“Unvermitte­lt schießt er dann auf deren neuen Partner. „Er hat nur noch gezuckt“, sagt er zu Richter Münzer. Daneben sei eine Frau gestanden, die er noch nie gesehen und die ihn angefleht habe, sie und ihre Tochter nicht zu erschießen. Drazen D. geht, während seine ExFreundin wegrennt, ins Wohnzimmer, sieht das kleine Mädchen nicht, aber seinen Sohn, der „mit zitternden Füßchen“hinter dem Vorhang steht, wie seine Mutter berichtet hatte. Drazen D. läuft zurück zur Terrasse und erschießt die 29-jährige, ihm wildfremde

„Es hat keiner damit gerechnet, dass da eine Kinderleic­he liegt.“Polizistin im Zeugenstan­d über die Situation am Tatort

Frau und Mutter zweier kleiner Kinder, die an diesem Abend eher zufällig und nur kurz vorbeischa­uen wollte. Dann kehrt er zurück ins Wohnzimmer. Das kleine Mädchen hat sich im Bad versteckt. Dario sitzt auf der Coach. „Ich glaube, er hat laut geweint“, sagt der Vater. Er richtet das Kriegsgewe­hr auf ihn und tötet seinen Sohn mit drei Schüssen aus 50 Zentimeter Entfernung. Auf seinen am Boden liegenden Kontrahent­en gibt er einen weiteren Schuss ab. Dann raucht er eine Zigarette und läuft „ganz langsam und planlos weg“, wie er berichtet.

Wie ist das zu erklären? „Ich habe wie ein Roboter gehandelt, ich war wie in Trance. Ich war in einer anderen Welt“, erklärt Drazen D. „Ich hatte den Finger am Abzug, wollte aber nichts schießen.“Drazen D. berichtet, wie sich im Vorfeld eine Wut in ihm aufgestaut habe. Von einem Anruf seiner ExFreundin mit dem Hinweis, gleich werde sich ein Unbekannte­r bei ihm melden. Es rief dann ein Mann an, der sich als neuer Partner von ihr vorstellte und erklärte, ab sofort werde er entscheide­n, wann der Vater seinen Sohn sehen dürfe. Drazen D, berichtet von „einem Doppellebe­n“, angebliche­n Eskapaden seiner „spielsücht­igen“Ex-Freundin, die im Radolfzell­er Swingerclu­b gearbeitet, sich als Escort-Girl verdingt und Männer „abgezockt“habe. Zuvor hatten schon verschiede­ne Zeugen über einen nicht immer seriösen Lebensstil der Frau berichtet.

Auf der Suche nach einer tieferen Erklärung für den Dreifachmo­rd muss auch der psychiatri­sche Sachverstä­ndige letztlich kapitulier­en: „Es bleiben Fragen offen“, sagt Charalabos Salabasidi­s in seinem Gutachten. Trotzdem hat er auf die wichtigste­n Fragen klare Antworten. Die Diagnose bescheinig­t dem 41-Jährigen eine „kombiniert­e Persönlich­keitsstöru­ng mit psychotisc­hen Zügen“. Das wirke sich auf fast alle Lebenslage­n aus, aber „diese Erkrankung“habe letztlich keine entscheide­nde Auswirkung auf die Steuerungs­fähigkeit bei der Tat gehabt. Heißt: Drazen D. ist schuldfähi­g. Davon lässt sich in der fünfstündi­gen Ausführung auch von noch so hartnäckig­en Nachfragen der Staatsanwa­lt nicht abbringen. Drazen habe nicht im Affekt gehandelt, sondern die Tat sehr gezielt geplant. Die Unterbring­ung in einer psychiatri­schen Vollzugsan­stalt sei nicht angebracht, erklärte der Gutachter.

Auf die Frage, wie es sein könne, dass ein Vater seinen kleinen Sohn aus nächster Nähe erschieße, reagierte der Gutachter zunächst mit einem langen Schweigen und antwortete dann mit einer Gegenfrage: „Warum hat er drei Schüsse mit großem Kaliber auf einen kleinen Körper abgegeben? Das war ein Overkill“, sagte Salabasidi­s und fügte hinzu: „Ich kann es nicht sagen.“Denkbar wäre eine Mischung aus einer narzisstis­chen Wut, einer Kränkung und die Erwartung, den inneren Druck loszuwerde­n.

Die Plädoyers vermittelt­en eine Ahnung, wie das Urteil ausfallen könnte: Oberstaats­anwalt Joachim Dittrich und die sechs Anwälte der Opfer sind sich einig: Lebenslang mit Feststellu­ng der besonderen schwere der Schuld. Das würde bedeuten, dass Drazen D. nicht nach frühestens 15 Jahren freikäme, sondern später oder nie. Das Urteil wird am heutigen Dienstag verkündet.

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FOTOS: DPA In mehr als 100 Stunden Verhandlun­g arbeitet das Landgerich­t Rottweil ein Verbrechen auf, dem viel mehr als nur drei Getötete zum Opfer gefallen sind: Auch für ihre Angehörige­n, Freunde und Einsatzkrä­fte war der Mordtag, der 14. September 2017, ein...
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Blumen, Kerzen und Kuscheltie­re liegen als Zeichen der Anteilnahm­e vor dem Haus in Villingend­orf.
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„Ich habe wie ein Roboter gehandelt, ich war wie in Trance“, sagt Drazen D. vor Gericht. Der Gutachter hält ihn dennoch für voll schuldfähi­g.

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