Ein Syrer erzählt
Lola Arias’ neues Stück an den Münchner Kammerspielen stellt aktuelle Flüchtlingsschicksale dar
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MÜNCHEN - Im Open Border Ensemble versammeln die Münchner Kammerspiele Schauspieler und Schauspielerinnen aus Krisengebieten. Drei Mitglieder dieses Ensembles der offenen Grenzen kommen aus Syrien und spielen in „What they want to hear“der argentinischen DokuTheatermacherin Lola Arias mit. Da ist aber auch Raeed Al Kour, ein syrischer Flüchtling, der seine Fluchtgeschichte erzählt und inzwischen weiß, dass er den Mitarbeitern in der Bundesanstalt für Migration und Flüchtlinge (Bamf) erzählen sollte, „Was sie hören wollen“. Die Uraufführung war jetzt auf der großen Kammerspielbühne.
Da sitzt der Archäologe aus Damaskus nun endlich in einer BamfAmststube und soll erklären, warum er dem unbarmherzigen syrischen Bürgerkrieg entkommen wollte. Raeed Al Kour hat in friedlicheren Zeiten als Student bei europäischen Ausgrabungsprojekten mitgearbeitet. Zur lebensgefährlichen Flucht entschloss er sich, als sein Cousin von Schergen des syrischen Präsidenten Assad zu Tode gefoltert wurde. Al Kour hat wie sein Cousin gegen den Diktator protestiert, ist ein politisch verfolgter Flüchtling und müsste eigentlich einen Aufenthaltsstatus in Deutschland bekommen. Es droht ihm aber die Abschiebung. Seit 1620 Tagen wartet er unter anderem auf die Möglichkeit, in Deutschland studieren zu können. Das sind mehr als vier Jahre und vier Monate.
Mal Dokumentation, mal Fiktion
Warum schutzbedürftige Flüchtlinge auch nach der Flucht unter Umständen permanent in Angst leben, zeigt Lola Arias Abend in einer Mischung aus dokumentarischen Szenen und fiktionalen Einschüben. Arias spielt die einzelnen Stationen eines Flüchtlingsschicksals durch, von der BamfBefragung über das Zusammentreffen mit einer ehrenamtlichen Helferin und einer Juristin, die immerhin eine Aufschiebung der Abschiebung erreicht. Alle drei Figuren werden von der Schauspielerin Michaela Steiger gespielt, die zwischen der kühlen Emotionslosigkeit einer Bamf-Mitarbeiterin, der etwas übergriffigen Geschäftigkeit einer Anwältin und einer unsicheren Haltung der Ehrenamtlichen wechselt.
Ist Michaela Steiger die ehrenamtliche Helferin, berät sie vier Flüchtlinge, gespielt vom libanesischen Schauspieler Hassan Akkouch und den syrischen Kollegen Jamal Chkair, Kinan Hmeidan und Kamel Najma. Es geht um die Fallstricke der interkulturellen Verständigung und darum, wie man die eigene Fluchtgeschichte erzählt. Macht der Migrant da einen Fehler oder versteht die Beamtin etwas falsch, landet er schnell auf der Abschiebeliste. Also gilt vor allem: Auf jeden Fall linear von Anfang bis Ende erzählen, und nicht – wie das in Ländern des Nahen Ostens unter Umständen üblich ist – in der Geschichte springend. Was die ehrenamtliche Helferin nicht sagt, Flüchtlinge aber schon vor ihrer Flucht wissen müssten: Wenn sie wie Raeed Al Kour in Bulgarien verhaftet und gezwungen werden, ein offizielles Dokument zu unterschreiben, dann sollten sie das vor der deutschen Grenze auf jeden Fall wegwerfen und die Bulgarien-Episode während der Anhörung auf keinen Fall erwähnen. Sind sie ehrlich wie Al Kour und legen das Dokument dem deutschen Bamf vor, geraten sie automatisch in die Mühlen des Dublin-Prozesses. Es geht nicht mehr darum, ob man ein politisch verfolgter Flüchtling ist, sondern nur noch darum, dass derjenige aufgrund des Übereinkommens von 1990 nach Bulgarien abgeschoben werden kann und dort in einem Lager mit völlig verwahrlosten Unterkünften landet.
Lola Arias hat vor einigen Jahren mit ihrer aufwühlenden Dokufiktion „Mi Vida Después“Furore gemacht. Es ging um die Verschleppung von Kindern Oppositioneller während der argentinischen Militärdiktatur. Auf der Bühne standen Schauspielerinnen und Schauspieler, die in der eigenen Familie recherchiert hatten, was die Eltern in der Zeit der Diktatur getan haben. Jetzt ist da Raeed Al Kour und erzählt ganz sachlich, was ihm alles zugestoßen ist. Und das reicht völlig.
Richtige Fragen zur richtigen Zeit
Lola Arias ist so klug, dass sie die paradigmatische Fluchtgeschichte für sich sprechen lässt, den Rest versteht, wer eins und eins zusammenzählen kann. Das Stichwort, das den Abend so politisch brisant macht, ist „Dublin“. Ist es nicht so, dass die Übereinkunft von 1990 zur Folge hat, dass Flüchtlinge sich schier gezwungen sehen, ihre Identitätspapiere zu „entsorgen“, so sie welche haben? Und hat das nicht zur Folge, dass auch gefährliche Straftäter durch Europa touren?
Ganz am Ende hat dann auch noch der Kollege Zufall mitgespielt und dafür gesorgt, dass Lola Arias’ Abend der richtigen Fragen ausgerechnet jetzt in München zur Uraufführung gekommen ist, da die Bundeskanzlerin mit den CSU-Wahlkämpfern Seehofer, Söder und Dobrindt um Lösungen in der Flüchtlingsfrage ringt. Sie sucht eine kaum realisierbare europäische Lösung, während die drei an einer Trumpisierung der deutschen Politik arbeiten und selbst ihre Stammwähler vor die Frage stellen: Warum nicht gleich AfD wählen?
Weitere Termine:
am 27. Juni, 3., 12., 16. und 23. Juli. Karten unter: www.muencher-kammerspiele.de