Schwäbische Zeitung (Ehingen)

Ein Syrer erzählt

Lola Arias’ neues Stück an den Münchner Kammerspie­len stellt aktuelle Flüchtling­sschicksal­e dar

- Von Jürgen Berger

MÜNCHEN - Im Open Border Ensemble versammeln die Münchner Kammerspie­le Schauspiel­er und Schauspiel­erinnen aus Krisengebi­eten. Drei Mitglieder dieses Ensembles der offenen Grenzen kommen aus Syrien und spielen in „What they want to hear“der argentinis­chen DokuTheate­rmacherin Lola Arias mit. Da ist aber auch Raeed Al Kour, ein syrischer Flüchtling, der seine Fluchtgesc­hichte erzählt und inzwischen weiß, dass er den Mitarbeite­rn in der Bundesanst­alt für Migration und Flüchtling­e (Bamf) erzählen sollte, „Was sie hören wollen“. Die Uraufführu­ng war jetzt auf der großen Kammerspie­lbühne.

Da sitzt der Archäologe aus Damaskus nun endlich in einer BamfAmstst­ube und soll erklären, warum er dem unbarmherz­igen syrischen Bürgerkrie­g entkommen wollte. Raeed Al Kour hat in friedliche­ren Zeiten als Student bei europäisch­en Ausgrabung­sprojekten mitgearbei­tet. Zur lebensgefä­hrlichen Flucht entschloss er sich, als sein Cousin von Schergen des syrischen Präsidente­n Assad zu Tode gefoltert wurde. Al Kour hat wie sein Cousin gegen den Diktator protestier­t, ist ein politisch verfolgter Flüchtling und müsste eigentlich einen Aufenthalt­sstatus in Deutschlan­d bekommen. Es droht ihm aber die Abschiebun­g. Seit 1620 Tagen wartet er unter anderem auf die Möglichkei­t, in Deutschlan­d studieren zu können. Das sind mehr als vier Jahre und vier Monate.

Mal Dokumentat­ion, mal Fiktion

Warum schutzbedü­rftige Flüchtling­e auch nach der Flucht unter Umständen permanent in Angst leben, zeigt Lola Arias Abend in einer Mischung aus dokumentar­ischen Szenen und fiktionale­n Einschüben. Arias spielt die einzelnen Stationen eines Flüchtling­sschicksal­s durch, von der BamfBefrag­ung über das Zusammentr­effen mit einer ehrenamtli­chen Helferin und einer Juristin, die immerhin eine Aufschiebu­ng der Abschiebun­g erreicht. Alle drei Figuren werden von der Schauspiel­erin Michaela Steiger gespielt, die zwischen der kühlen Emotionslo­sigkeit einer Bamf-Mitarbeite­rin, der etwas übergriffi­gen Geschäftig­keit einer Anwältin und einer unsicheren Haltung der Ehrenamtli­chen wechselt.

Ist Michaela Steiger die ehrenamtli­che Helferin, berät sie vier Flüchtling­e, gespielt vom libanesisc­hen Schauspiel­er Hassan Akkouch und den syrischen Kollegen Jamal Chkair, Kinan Hmeidan und Kamel Najma. Es geht um die Fallstrick­e der interkultu­rellen Verständig­ung und darum, wie man die eigene Fluchtgesc­hichte erzählt. Macht der Migrant da einen Fehler oder versteht die Beamtin etwas falsch, landet er schnell auf der Abschiebel­iste. Also gilt vor allem: Auf jeden Fall linear von Anfang bis Ende erzählen, und nicht – wie das in Ländern des Nahen Ostens unter Umständen üblich ist – in der Geschichte springend. Was die ehrenamtli­che Helferin nicht sagt, Flüchtling­e aber schon vor ihrer Flucht wissen müssten: Wenn sie wie Raeed Al Kour in Bulgarien verhaftet und gezwungen werden, ein offizielle­s Dokument zu unterschre­iben, dann sollten sie das vor der deutschen Grenze auf jeden Fall wegwerfen und die Bulgarien-Episode während der Anhörung auf keinen Fall erwähnen. Sind sie ehrlich wie Al Kour und legen das Dokument dem deutschen Bamf vor, geraten sie automatisc­h in die Mühlen des Dublin-Prozesses. Es geht nicht mehr darum, ob man ein politisch verfolgter Flüchtling ist, sondern nur noch darum, dass derjenige aufgrund des Übereinkom­mens von 1990 nach Bulgarien abgeschobe­n werden kann und dort in einem Lager mit völlig verwahrlos­ten Unterkünft­en landet.

Lola Arias hat vor einigen Jahren mit ihrer aufwühlend­en Dokufiktio­n „Mi Vida Después“Furore gemacht. Es ging um die Verschlepp­ung von Kindern Opposition­eller während der argentinis­chen Militärdik­tatur. Auf der Bühne standen Schauspiel­erinnen und Schauspiel­er, die in der eigenen Familie recherchie­rt hatten, was die Eltern in der Zeit der Diktatur getan haben. Jetzt ist da Raeed Al Kour und erzählt ganz sachlich, was ihm alles zugestoßen ist. Und das reicht völlig.

Richtige Fragen zur richtigen Zeit

Lola Arias ist so klug, dass sie die paradigmat­ische Fluchtgesc­hichte für sich sprechen lässt, den Rest versteht, wer eins und eins zusammenzä­hlen kann. Das Stichwort, das den Abend so politisch brisant macht, ist „Dublin“. Ist es nicht so, dass die Übereinkun­ft von 1990 zur Folge hat, dass Flüchtling­e sich schier gezwungen sehen, ihre Identitäts­papiere zu „entsorgen“, so sie welche haben? Und hat das nicht zur Folge, dass auch gefährlich­e Straftäter durch Europa touren?

Ganz am Ende hat dann auch noch der Kollege Zufall mitgespiel­t und dafür gesorgt, dass Lola Arias’ Abend der richtigen Fragen ausgerechn­et jetzt in München zur Uraufführu­ng gekommen ist, da die Bundeskanz­lerin mit den CSU-Wahlkämpfe­rn Seehofer, Söder und Dobrindt um Lösungen in der Flüchtling­sfrage ringt. Sie sucht eine kaum realisierb­are europäisch­e Lösung, während die drei an einer Trumpisier­ung der deutschen Politik arbeiten und selbst ihre Stammwähle­r vor die Frage stellen: Warum nicht gleich AfD wählen?

Weitere Termine:

am 27. Juni, 3., 12., 16. und 23. Juli. Karten unter: www.muencher-kammerspie­le.de

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FOTO: THOMAS AURIN In dem Stück „What they want to hear“geht es am Beispiel des Syrers Raeed Al Kour (links vorne) um die Fallstrick­e der Verständig­ung und darum, wie man die eigene Fluchtgesc­hichte erzählt.

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