Schwäbische Zeitung (Ehingen)

Höchststra­fe im Fall Villingend­orf

Harald zur Hausen glaubt, dass Infektione­n bei Krebs eine Schlüsselr­olle spielen – und vermieden werden können

- Von Erich Nyffenegge­r

ROTTWEIL (sz) - Der Fall in Villingend­orf hatte bundesweit Bestürzung ausgelöst, nun ist ein 41-Jähriger für den Mord an seinem sechsjähri­gen Sohn am Tag seiner Einschulun­g und an zwei weiteren Menschen zu lebenslang­er Haft verurteilt worden. Das Landgerich­t Rottweil stellte am Dienstag auch die besondere Schwere der Schuld fest. Somit kann der Kroate nicht nach 15 Jahren vorzeitig auf freien Fuß kommen. Der Täter nahm das Urteil noch im Gerichtssa­al an.

LINDAU - Mit Schaum vor dem Mund an der Frontlinie irgendwelc­her Impfdebatt­en zu stehen – so einer ist Harald zur Hausen sicher nicht. Dafür ist der leidenscha­ftliche Forscher zu sehr Faktenmens­ch. Der 82-Jährige hat das weiße Haar zu einem Scheitel gekämmt. Seine Kleidung wirkt ein bisschen zu groß. Seine Augen sind klar und lebendig, genauso sein Verstand, der auf jede Frage ohne Zögern mit präzisen Antworten reagiert. Seine Stimme klingt ruhig und sachlich. Nur an den Rändern ist der geborene Westfale in ihm herauszuhö­ren. Ein Mensch der Ratio, kein Schwätzer, kein Eiferer.

Wahrschein­lich fällt es ihm auch deshalb nicht leicht, überhaupt um etwas streiten zu sollen, das aus der Perspektiv­e von nachgewies­enen Tatsachen so eindeutig ist wie Wirksamkei­t und Nutzen von Impfungen. Vielleicht klingt der Satz, der all das auf den Punkt bringt, gerade deswegen so beiläufig und unaufgereg­t: „Pocken, Kinderlähm­ung oder die Tollwut: Diese Krankheite­n sind bei uns ausgerotte­t.“Nicht zufällig. Sondern durch Immunisier­ung. „Wir wissen ja gar nicht, wer sein heutiges Leben den Impfungen von Eltern oder Großeltern verdankt.“

Nobelpreis für Medizin

Und solche Sätze sagt nicht irgendwer hier in diesem nüchternen Interviewr­aum der Lindauer Inselhalle, sondern ein Mensch, der für den Nachweis, dass bestimmte Viren Gebärmutte­rhalskrebs auslösen können, die wichtigste Auszeichnu­ng der Welt bekommen hat. Die daraus resultiere­nde Impfung hat in Ländern wie Australien, wo sie früh eingeführt worden ist, zu messbaren Veränderun­gen geführt, sprich: Die Hinweise verdichten sich mit dem größer werdenden Abstand zur Einführung der Impfung, dass weniger Frauen an Tumoren sterben. „Auch weil die Impfung gegen Vorstufen verschiede­ner Krebsarten wirkt, die mit humanen Papillomav­iren (HPV) assoziiert sind“, erklärt Harald zur Hausen. Gerade die Vorstufen seien in Australien „drastisch“zurückgega­ngen seit Einführung der Impfung. „Es zeichnet sich klar ab, dass das dann auch für den Krebs selbst gilt, weil die Vorstufen notwendige Voraussetz­ung sind, dass überhaupt Krebs entsteht.“

Neben dem Gebärmutte­rhalskrebs existiert noch eine Reihe anderer durch HPV begünstigt­e Krebsarten, die Tumoren des Analund Genitalber­eichs betreffen. „Aber auch im Bereich von Rachen und Hals bei Jungen“, betont Harald zur Hausen. Deshalb wünscht er sich nicht nur, die Impfrate bei Mädchen zu erhöhen, sondern auch bei Knaben. Das sieht die Stiko (Ständige Impfkommis­sion, angesiedel­t am Robert Koch Institut) seit Anfang Juni genauso und empfiehlt die Impfung für männliche Heranwachs­ende im Alter zwischen neun und vierzehn Jahren.

„Doch das kommt für Jungen zehn Jahre zu spät“, sagt der Forscher. Und warum? „Na ja – mit dem etwas platten Argument, dass Jungen keinen

„Wir haben zu viele Apostel, die eine Meinung vertreten, die fachlich nicht zu begründen ist.“Harald zur Hausen über Impfgegner

Gebärmutte­rhalskrebs bekommen.“Aber um den gehe es naturgemäß auch nicht, sondern: „Männer zwischen 15 und 40 Jahren haben mehr Sexualpart­ner als Frauen der gleichen Altersgrup­pe, das ist der Hauptgrund, der für die Impfung auch bei Jungen spricht. Da geht es um die Übertragun­g der Infektion mit HPV.“Die Impfung wirke mit hoher Wahrschein­lichkeit, auch wenn es aufgrund der relativ kurzen Zeit seit der Einführung statistisc­h noch nicht nachweisba­r sei, denn: Zwischen Infektion und Krebsauftr­eten vergingen 15 bis 30 Jahre. „Außerdem gibt es Genitalwar­zen – eine sehr unerfreuli­che Krankheit beider Geschlecht­er – die sich mit der Impfung sehr gut verhindern lassen, wie bereits nachgewies­en wurde.“

Für Harald zur Hausen sind das Erfolge, über die er sich in aller Bescheiden­heit freut. Was seinen Frohsinn allerdings deutlich bremst, ist der Umstand, dass es so lange gedauert habe, bis die Impfung gegen die Papillomav­iren überhaupt gekommen sei. Und dass sie in Deutschlan­d auf noch immer große Skepsis stößt – Expertensc­hätzungen gehen davon aus, dass lediglich ein Drittel aller Mädchen im empfohlene­n Alter zwischen neun und siebzehn Jahren geimpft sind. Jungen noch viel weniger.

Aber der Nobelpreis­träger, der zur jährlichen Tagung nach Lindau gekommen ist, lacht auch nicht über Menschen, die anders denken als er. Die ideologisc­her argumentie­ren, getrieben von einem Gedankenge­bäude, das sich eher aus Überzeugun­gen nähre statt aus Beweisen. Die Mundwinkel des Forschers zucken nur ganz leicht, wenn er die aus seiner Sicht grundfalsc­he Annahme immer wieder zu hören bekommt, man müsse der Natur ihren Lauf lassen. Man dürfe schulmediz­inisch – und nichts anderes bedeuten Impfungen – nicht eingreifen, um am Ende gestärkt aus Krankheite­n hervorzuge­hen. „Wir haben zu viele Apostel in der Gegend, die hier eine Meinung vertreten, die zumindest fachlich nicht zu begründen ist.“

„Unsinnig und unnötig“

Warum Impfgegner gegen wissenscha­ftliche Fakten und Menschen wie zur Hausen, die oft genug als Handlanger der Pharmaindu­strie verunglimp­ft werden, zu Felde ziehen, kann er auch nicht sagen. „In Deutschlan­d haben wir eine relativ klare Zahl von Impfgegner­n, die sich auch gegen Masernimpf­ungen ausspreche­n.“Was dazu geführt habe, dass wieder Masernepid­emien in kleinerem und etwas größerem Umfang ausgebroch­en seien. „Und auch die ersten Kinder daran gestorben sind“, sagt Harald zur Hausen, und seine Stimme hebt sich zum ersten Mal deutlich. Völlig unsinnig und unnötig sei das. „Ich betrachte es eigentlich als einen Skandal, dass die Impfmüdigk­eit so ausgeprägt ertragen wird.“Dabei verlangt der Nobelpreis­träger keine Impfpflich­t, sondern empfiehlt den Weg über die Schulen, wie das Beispiel Australien zeige. Dort sei die Impfrate auf über 80 Prozent angestiege­n. „Kinder lassen sich auch bereitwill­iger impfen, wenn sie sehen, dass auch andere geimpft werden. Da fehlt es bei uns.“

Dass so ein schulische­s Impfprogra­mm auch in Deutschlan­d wirkt, belegen Projekte an drei Schulen in Hessen: „Da sind die Impfraten von zuvor 40 auf 70 bis 80 Prozent gestiegen.“Dazu kommen Vorträge, die immer dann die größte Wirkung zeigten, wenn von Gebärmutte­rhalskrebs betroffene Frauen von ihrer Krankheit berichten. Die Schilderun­g echter Erfahrunge­n sei viel eindrucksv­oller, als wenn Fachwissen­schaftler bloß redeten.

„Das ist ein Weg, aber es gibt noch andere“, sagt Harald zur Hausen, und zwar über die Ärzte. „Sie sind die ersten Ansprechpa­rtner – und interessan­terweise sind einige nicht besonders gut informiert.“Es gebe auch bei Kinderärzt­en Verunsiche­rungen, aber die Fakten – auch „extrem niedrige“Nebenwirku­ngsraten – sprächen für sich.

Oder kommt die Impfmüdigk­eit vielleicht daher, dass Wissenscha­ft zu wenig erklärt wird? „Wissen Sie, ich habe mich dafür wahnsinnig engagiert in den vergangene­n Jahrzehnte­n und sehe eigentlich mit einer gewissen Frustratio­n einen vergleichs­weise geringen Erfolg“, sagt zur Hausen mit einem Klang von Resignatio­n in der Stimme. Zum oft wiederholt­en Vorwurf der Käuflichke­it sagt er: „Wenn Sie Propaganda für eine Impfung machen, machen Sie zwangsläuf­ig auch Propaganda für die Hersteller. Für mich persönlich kann ich aber sagen, dass ich dadurch keine Einnahmen habe.“Nicht aus Gründen der Bereicheru­ng engagiere er sich, sondern „weil ich überzeugt bin, dass die Impfstoffe gut sind und dass sie helfen“, unterstrei­cht zur Hausen.

„Ich betrachte es als Skandal, dass die Impfmüdigk­eit so ausgeprägt ertragen wird.“Harald zur Hausen empfiehlt den Weg über die Schulen

Der Nobelpreis­träger hat sich in seinen Forschunge­n längst neuen Gebieten zugewandt, die die Frage aufwerfen: Kann es sein, dass unsere Nähe und der Verzehr von Rindfleisc­h und Milchprodu­kten die Ursache für Demenz sein könnten und der Schlüssel zu vielen Krebserkra­nkungen? Dazu sagt der Wissenscha­ftler: „Wir forschen tatsächlic­h an Infektione­n, die von Rindern auf den Menschen übertragen werden können und mit denen wir wahrschein­lich alle bereits in früher Kindheit infiziert wurden.“Auch diese Erregertyp­en „seien sehr wahrschein­lich“an der Entstehung so häufiger Krebsarten wie Brust- oder Darmkrebs beteiligt, ist zur Hausen überzeugt. „Ich glaube, wir haben eine realistisc­he Chance, auch hier wirksame präventive Maßnahmen zu entwickeln.“Und damit macht der Nobelpreis­träger fast beiläufig Hoffnung darauf, dass die häufigsten Krebsarten nicht irgendwann, sondern auf Sicht von wenigen Jahrzehnte­n ihren Schrecken verlieren könnten.

Aber das würde ein Harald zur Hausen so nicht sagen. Dafür ist er zu sehr Faktenmens­ch. Und bis alle nötigen Belege auf dem Tisch liegen, macht der Nobelpreis­träger seine Arbeit. Wie seit 60 Jahren schon.

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FOTO: IMAGO STOCK&PEOPLE Ein Virus in der Blutbahn.

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