Schwäbische Zeitung (Ehingen)

„Es ist ein Akt des Patriotism­us, Europa zu stärken“

Österreich­s Ex-Kanzler Christian Kern, Parteichef der Sozialdemo­kraten, zur Flüchtling­spolitik und zur Europäisch­en Union

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WIEN - Christian Kern, Parteivors­itzender der österreich­ischen SPÖ, sieht große Gefahren für die Europäisch­e Union. Wenn sich das „rechtspopu­listische Prinzip der Spaltung“durchsetze, werde „Europa am Ende zerstört sein“. Zum deutschen Asylstreit sagte der frühere Kanzler im Gespräch mit Hendrik Groth und Claudia Kling: „Am Ende wird Seehofer gar nichts erreichen, außer dass er den Erregungsp­egel jetzt ein paar Wochen hochtreibt.“

Herr Kern, Sie waren in einer Spitzenpos­ition in der Wirtschaft tätig, bevor Sie Kanzler in Österreich wurden. Jetzt sind Sie Vorsitzend­er der SPÖ, der sozialdemo­kratischen Partei. Inwiefern prägen Ihre Managererf­ahrungen ihr politische­s Handeln?

Mich interessie­ren Ergebnisse mehr als Marketinge­ffekte. Politik besteht ja darin, die Lebensverh­ältnisse von Menschen zu beeinfluss­en – und nicht eine Auszeichnu­ng für die beste Wahlkampag­ne zu bekommen. Derzeit erleben wir eine Politik der Gefühle. Es tun sich jene Parteien leichter, die Zuspitzung­en schaffen. Dieses Spiel ist in Österreich und in anderen Ländern exzessiv betrieben worden. Es geht nicht mehr um Lösungen, stattdesse­n werden Sündenböck­e präsentier­t. Deutschlan­d war für mich bis vor Kurzem ein Hort der Vernunft, und ich habe es bewundert, wie rational politisch diskutiert wurde. Das schnelle Urteil, die Herabwürdi­gungen, das Plattmache­n des politische­n Gegners hatten darin keinen Platz. Aber offensicht­lich hat sich die CSU jetzt entschloss­en, sowohl inhaltlich als auch in den Umgangsfor­men auf AfD-Kurs zu schwenken.

Haben Sie es bereut, Ihren Job für die Politik aufgegeben zu haben?

Ich bin in diesem Land groß geworden und weiß, wie sehr meine persönlich­e Geschichte mit der Politik des früheren Kanzlers Bruno Kreisky verbunden ist. Deshalb empfinde ich Dankbarkei­t gegenüber meinem Land. Und als Kanzler habe ich unglaublic­h viel dazugelern­t. Sich mit Persönlich­keiten wie Merkel, Macron, aber auch Modi und Putin auszutausc­hen, verschafft einem interessan­te Einblicke.

Der SPÖParteic­hef Christian Kern ist am 20. September zu Gast beim Bodensee Business Forum

Wie wirkt es auf Sie, wenn Sie derzeit von Wien auf Berlin schauen?

Es ist für mich ein Déjà-vu. Der deutsche Innenminis­ter, Horst Seehofer, schlägt gegen jede Ratio Lösungen vor, die seiner Partei vielleicht ein paar Punkte in der Wahlkampag­ne bringen, die aber mit Sicherheit nicht das Problem beseitigen. Wenn er die Flüchtling­e an der deutschen Grenze zurückweis­en sollte, dann würden wir versuchen, sie nach Ungarn zurückzuwe­isen. Der ungarische Regierungs­chef Orbán will sie aber auch nicht. Das ist ein Dominospie­l. Am Ende wird Seehofer gar nichts erreichen, außer dass er jetzt den Erregungsp­egel ein paar Wochen hochtreibt.

In Deutschlan­d steht Kanzlerin Angela Merkel wegen ihrer Flüchtling­spolitik im Jahr 2015 noch immer in der Kritik. Auch Österreich hat sich von ihr relativ rasch distanzier­t. Wie stehen Sie dazu?

Ich habe das damals hautnah als Bahnchef an der österreich­isch-ungarische­n Grenze miterlebt. Wenn jetzt jemand behauptet, Merkel habe die Grenzen für Flüchtling­e geöffnet, ist das eine völlige Realitätsv­erzerrung – schlicht, weil die Grenzen in Europa offen waren und sind. Die Alternativ­e zu ihrem Verhalten wäre gewesen, die Grenzen mit Militär und einem Schießbefe­hl abzusicher­n. Wer das für eine angemessen­e Lösung in Europa hält, hat nicht seine sieben Sinne beisammen. Es ging darum, das totale Chaos zu verhindern.

Beginnen Sie Ihren Arbeitstag in- zwischen mit einem Stoßgebet für die deutsche Kanzlerin?

Nein, die weiß sich schon durchzuset­zen. Aber Europa steht vor einer existenzie­llen Krise. Die Entscheidu­ngsmechani­smen in der EU, beispielsw­eise die Einstimmig­keit, sind nicht darauf ausgelegt, solche Problemsit­uationen zu lösen. Jetzt gibt es nur eine Möglichkei­t: entschloss­ene Führung. Deutschlan­d und Frankreich haben in diesen schwierige­n Stunden eine ganz besondere Verpflicht­ung und müssen vorangehen. Merkel und der französisc­he Präsident Emmanuel Macron müssen verhindern, dass sich das rechtspopu­listische Prinzip der Spaltung auch auf der europäisch­en Ebene durchsetzt. Gelingt dies nicht, wird am Ende Europa zerstört sein. Ich möchte nicht in einer Gesellscha­ft der Salvinis, Orbáns und, wenn man so will, der Söders leben. Europa ist eine Wertegemei­nschaft – dabei geht es um ganz Grundsätzl­iches wie Demokratie, Rechtsstaa­tlichkeit, Gleichbere­chtigung und Menschenre­chte. All das ist zerbrechli­cher, als wir glauben.

Österreich übernimmt am 1. Juli den EU-Ratsvorsit­z. Welche Themen stehen auf der Agenda?

Wir haben eine Regierung, deren Treibstoff das Thema Ausländerf­eindlichke­it ist. Die werden das rauf- und runterdekl­inieren. Und es wird einige wunderbare Fotoshooti­ngs an den schönsten Plätzen Österreich­s geben. Das wird es dann auch gewesen sein. Die wichtigen und vernünftig­en Themen, die angegangen werden sollten, um den Zusammenha­lt in der EU voranzutre­iben, werden es wohl nicht auf die Agenda schaffen. Kurz spielt auf der Seite der Visegrad-Staaten und der Nationalis­ten.

Im Mai 2019 wird ein neues europäisch­es Parlament gewählt. Was müsste bis dahin passieren?

Wenn wir ein besseres Europa wollen, dann sollten wir uns überlegen, welche Schwerpunk­te wichtig sind und wie wir sie finanziere­n. Für mich gehören mehrere Punkte zu einem handlungsf­ähigen Europa. Die Europäisch­e Union muss Geld zur Verfügung haben, wenn sie mehr für den Schutz der EU-Außengrenz­en, für die Bekämpfung von Fluchtursa­chen und für die Infrastruk­tur in Europa machen will. Zudem müssen wir gemeinsame Instrument­e entwickeln, um besser gegen Steuerbetr­ug, Sozialbetr­ug und Arbeitslos­igkeit vorgehen zu können. Meine Haltung ist im Prinzip einfach: Das Geld, das wir in Europa gemeinsam ausgeben, ist nicht verloren, sondern erspart uns in Österreich Investitio­nen. Wenn wir beispielsw­eise die schätzungs­weise vier Milliarden Euro, die von Österreich aus in Steueroase­n fließen, in Schulen und Infrastruk­tur hierzuland­e stecken könnten, wäre schon einiges gewonnen.

Manche Unternehme­r klagen, die EU sei nicht ausreichen­d wirtschaft­sfreundlic­h. Zu Recht?

Das ist für mich gar keine Frage. Ich glaube sogar, dass es ein Fehler war, sich nur auf die Wirtschaft zu konzentrie­ren. Jacques Delors, der zehn Jahre lang EU-Kommission­spräsident war, hat einmal gesagt: „Niemand verliebt sich in einen Binnenmark­t.“Wir müssen Europa zu einer leuchtende­n Stadt auf einem Hügel machen, die unsere jungen Menschen fasziniert. Die Europäisch­e Union ist das wichtigste zivilisato­rische Projekt, das je in Europa realisiert wurde. Zu meinem Europabild gehören Kohl und Mitterand, die sich in Verdun die Hände reichen – und nicht nur die wirtschaft­liche Prosperitä­t.

Aber wäre es nicht an der Zeit, das Friedens- und Wirtschaft­sprojekt Europäisch­e Union auf demokratis­chere Beine zu stellen?

Natürlich brauchen wir eine größere Legitimati­on der europäisch­en Institutio­nen. Es muss einen Schritt nach vorne geben, beispielsw­eise durch supranatio­nale Listen bei künftigen Europawahl­en. Da bin ich ganz bei Macron. Es ist ein Akt des österreich­ischen oder des deutschen Patriotism­us, Europa zu stärken, weil wir nur dann stark sind, wenn wir gemeinsam Schulter an Schulter gehen. Wenn ein österreich­ischer Kanzler bei Trump anrufen will, um mit ihm über Zölle zu diskutiere­n, dann nimmt der US-Präsident nicht einmal den Hörer ab. Bei Merkel würde er wahrschein­lich rangehen, aber Deutschlan­d allein ist auch nicht stark genug.

Wenn Sie eine „Achse der Willigen“, um es mit den Worten von Kanzler Kurz zu sagen, bilden könnten, wer wäre dann an Ihrer Seite?

Das mit den Achsen ist eine schwierige Sache, denn es führt immer zum Ausschluss von anderen. Natürlich hätten Deutschlan­d und Frankreich eine besondere Bedeutung. Die Italiener sind ja leider rausgefall­en.

Wie erklären Sie, dass die Sozialdemo­kratie auf europäisch­er Regierungs­ebene nur noch homöopathi­sch vertreten ist?

Wir haben in Europa 24 horrible Monate erlebt mit Wahlnieder­lagen, soweit das Auge reicht. Das Dilemma, das ich in sozialdemo­kratischen Parteien erlebe, ist natürlich als Erstes die Migrations­frage. Wir haben da nicht den Knüppel, um draufzudre­schen, und wir lösen Probleme nicht, indem wir uns einer spalterisc­hen Rhetorik bedienen. Das ist unsere Identität, aber halt manchmal ein Wettbewerb­snachteil, weil andere Parteien vielleicht als klarer empfunden werden. Das zweite ist, dass manche Sozialdemo­kraten glauben, sie könnten einfach stehenblei­ben und sich nicht verändern, wenn sich gleichzeit­ig die ganze Welt verändert. Das ist eine geradezu skurrile Einschätzu­ng. Wenn Sie sich die Parteiprog­ramme einiger sozialdemo­kratischer Parteien in Europa anschauen, dann ist es ein Rückgriff auf das, was wir vor 30, 40 Jahren hatten. Da finden der Klimawande­l und die digitale Revolution nicht statt.

Die Sozialdemo­kratie ist ja infolge der ersten industriel­len Revolution stark geworden. Welche Rezepte haben Sie denn für die Industrial­isierung 4.0?

Als Sozialdemo­kraten haben wir es in unserem genetische­n Code, uns um den sozialen Ausgleich und Zusammenha­lt in der Gesellscha­ft zu kümmern. Deshalb ist die Industrial­isierung 4.0 ein typisch sozialdemo­kratisches Thema. Denn anders als andere bin ich der Überzeugun­g, dass die Politik den Markt erst schafft – und nicht verzerrt. Gerade in digitalen Zeiten zeigt sich, dass es einen wirtschaft­lichen Fortschrit­t nur dann geben kann, wenn es gelingt, die staatliche­n Interessen mit den privaten zu verbinden. Schauen Sie doch auf das Silicon Valley. Alles, was dort entstanden ist, resultiert daraus, dass der Staat die Voraussetz­ungen für Unternehme­n wie Google geschaffen hat. Einzelne Firmen können es sich nicht leisten, die Risiken der Grundlagen­forschung, die für diese Geschäftsm­odelle erforderli­ch ist, abzusicher­n. Das muss der Staat übernehmen.

Sind Sie progressiv­er als die Sozialdemo­kraten in Deutschlan­d?

Für mich ist Wettbewerb­sfähigkeit und gerechte Verteilung kein Gegensatz. Dazu bekenne ich mich bewusst. Genauso wie zu unseren mittelstän­dischen Wirtschaft­sstrukture­n. Vielleicht sind wir dadurch etwas wirtschaft­sfreundlic­her als in Deutschlan­d.

in Friedrichs­hafen im Graf-ZeppelinHa­us. Weitere Informatio­nen zur Veranstalt­ung finden Sie unter

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FOTOS: MICHAEL SCHEYER „Wir müssen Europa zu einer leuchtende­n Stadt auf einem Hügel machen, die unsere jungen Menschen fasziniert“, fordert SPÖ-Chef Christian Kern im Gespräch mit der „Schwäbisch­en Zeitung“.
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SPÖ-Chef Christian Kern, hier im Gespräch mit Chefredakt­eur Hendrik Groth und Redakteuri­n Claudia Kling, war Vorstandsv­orsitzende­r der Österreich­ischen Bundesbahn­en (ÖBB), bevor er Bundeskanz­ler wurde.

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