Orcas in Gefahr
Verzweifelt versuchen Experten, die gefährdeten Schwertwale an der kanadischen Küste zu retten
Die Schwertwale sterben aus: Vor der kanadischen Küste beobachten Wissenschaftler einen dramatischen Rückgang von Orca-Populationen (Foto: Imago). Futtermangel, Verschmutzung der Meere und zunehmender Schiffsverkehr setzen den Tieren zu. (sz)
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VICTORIA - Der Kapitän streift sich einen hautengen Trockenanzug über, springt in sein offenes Boot und braust mit aller Kraft hinaus auf den Pazifik. Geschickt steuert er sein Gefährt durch fjordähnliche Meerengen, vorbei an felsigen Inseln und Inselchen. Im Hintergrund leuchten die schneeweißen Gipfel der Olympic-Mountains herüber und der Kapitän verspricht: „Bald werdet ihr euren ersten Wal sehen.“
Ein paar Minuten später ist es soweit. „Hier, auf 90 Grad“, ruft er und tatsächlich: Am Horizont taucht eine erste Rückenflosse im Wasser auf. Dann noch eine und später noch eine. Die Schwertwale tauchen auf und ab und nähern sich bis auf wenige Meter dem Boot. Einmal schwimmen sie sogar unter dem Bug hindurch. Die Kameras surren, die Smartphones blitzen und der Tag könnte perfekter nicht sein.
Ein Drama der Natur
Whale-Watching-Touren wie diese sind der Hit in den Grenzgewässern im Westen der USA und Kanada. In den zerklüfteten Meeresarmen zwischen Seattle und Vancouver Island leben das ganze Jahr über mehrere Dutzend Schwertwale und die Chancen, die schwarz-weiß gefleckten Meeressäuger in ihrer natürlichen Umgebung zu beobachten, sind groß. Doch wie lange noch?
Es ist ein Drama der Natur, denn die an der nordwestlichen Pazifikküste heimischen Schwertwale müssen um ihr Überleben fürchten. Die ikonischen Tiere leiden unter chronischem Futtermangel, der Verschmutzung der Meere und dem zunehmenden Schiffsverkehr und Lärm. Noch 1995 bestand die betroffene Gruppe der Southern-ResidentPopulation aus 98 Walen, heute sind es nur noch 75.
Die auch Orcas genannten Wale bekommen keinen Nachwuchs mehr – und sterben langsam aus. Zwischen 2007 und 2014 scheiterten in der Region zwei Drittel aller Schwangerschaften, in den letzten drei Jahren alle. Besonders bewegend war das Schicksal der trauernden Schwertwal-Mutter Tahlequah diesen Sommer. Ihr Kalb war Ende Juli geboren worden, hatte aber nur eine halbe Stunde überlebt. Danach hatte die traurige Mutter ihr totes Kalb 17 Tage lang verzweifelt über Wasser gehalten. Es war ein bislang beispielloser Trauerakt, der Menschen auf der ganzen Welt bewegte. Zwar sind Wale und auch Delfine dafür bekannt, ihre toten Familienmitglieder noch eine Zeitlang über Wasser zu halten. Noch nie zuvor aber hatten Biologen eine so lange Trauerperiode beobachtet wie in diesem Fall.
Für Experten ist es ein Hinweis auf Stress und Unterernährung der Tiere, die vielen Menschen aus dem Film „Free Willy – Ruf der Freiheit“bekannt sind und die zu den wohl am meisten beobachteten und erforschten Meeressäugern der Welt gehören. „Wenn wir den Orcas helfen wollen, dann müssen wir das Lachsproblem lösen“, meint Ken Balcomb vom lokalen „Centre of Whale Research“.
Die Orcas ernähren sich hauptsächlich von fettreichen Königlachsen – auch deren Bestände gehen im pazifischen Nordwesten stetig zurück. Das liegt an der Überfischung, dem Bau immer neuer Staudämme an den Lachsflüssen und den Abwässern. Dazu kommen die umstrittenen Lachsfarmen, aus denen immer mal wieder eingeführte Fischarten entweichen und die natürlichen Gattungen verdrängen.
Neue Ölpipeline geplant
Große Probleme haben die Schwertwale auch mit dem Schiffsverkehr und dem Unterwasserlärm. Die Schiffe stören das empfindliche Biosonarsystem, mit dem die Wale ihre Beute orten und mit dem sie untereinander kommunizieren. Wenig Gutes verheißt dabei der geplante Bau einer neuen Ölpipeline nahe Vancouver, die den Tankerverkehr in der Region in den nächsten Jahren um ein Vielfaches erhöhen wird.
Viele Orca-Kälber sterben schon vor ihrer Geburt oder überleben nur kurz. 1400 Lachse Nahrung pro Tag bräuchte die Population laut Forschern, um ihren Bedarf zu decken. Die Lage ist so verzweifelt, dass Experten letztes Jahr 500 000 Junglachse in den Ozean entlassen haben, um den Orcas zu helfen. Im Mai hat die Regierung in Teilen der Region die Lachsfischerei verboten. WhaleWatching-Boote müssen neuerdings einen Mindestabstand von 200 Metern zu Walen einhalten, zuvor waren es 100 Meter.
Mit einer beispiellosen grenzüberschreitenden Rettungsaktion versuchen die kanadischen und amerikanischen Behörden derzeit, einen weiteren Wal-Tod zu verhindern. Das dreijährige Orca-Weibchen Scarlet gehört in den fraglichen Gewässern zur letzten Generation von Walen, die bei der Geburt nicht starben. Die Forscher hatten große Hoffnungen auf ihre Gebärfähigkeit und damit den Fortbestand der Population gesetzt.
Doch nun ist Scarlet erkrankt und gefährlich abgemagert. Ihre Fettschicht auf ihrem Kopf ist dünn geworden und ihr Atem riecht übel. Biologen haben eine Infektions- und Wurm-Erkrankung diagnostiziert, die durch die Mangelernährung verschlimmert wird. Mit einer noch nie zuvor getesteten Aktion versuchten sie zuletzt, Scarlet von einem Boot aus mit frischen Lachsen zu füttern. Allerdings ist unklar, ob die geschwächte Waldame die verabreichten Fische verzehrt hat.
Auch Medikamente werden dem kranken Wal verabreicht. Letzte Woche schossen die Biologen einen Pfeil mit einem lang anhaltenden Antibiotikum auf Scarlet, in den nächsten Tagen soll eine zweite Dosis erfolgen. Laut Experten hat sich Scarlets Gesundheitszustand seit der Injektion der Medikamente leicht verbessert. Es ist ein kleiner Hoffnungsschimmer im Kampf um das Überleben der Orcas.