Wenn Frauen wegen Jacken lügen
Wie fatal es ist, den richtigen Moment zu verpassen, doch noch die Wahrheit zu sagen
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LINDAU - Ein verkaufsoffener Sonntag in einem Einkaufszentrum einer kleinen Bodenseestadt, kurz vor Ladenschluss: Die Verkäuferin des Billigbekleidungsgeschäfts räumt die Ware auf, faltet Kleidung, hängt Wäsche zurück in den Ständer. Zwei späte Kundinnen diskutieren noch über Schnäppchen vor und in den Umkleidekabinen. Eine der beiden verschwindet mit mehreren Stücken – darunter zwei Jacken und zwei TShirts – hinter dem Vorhang.
Die Verkäuferin schaut auf die Uhr und sehnt sich nach dem Feierabend. Dann kommen die beiden jungen Damen zur Kasse. Die große Blonde reicht zwei Jacken über den Tresen. Als die Verkäuferin die Etiketten sieht, weiß sie sofort: Hier stimmt was nicht. Eine Baumwolljacke für 15,99? Muss die nicht fast 40 Euro kosten? Darauf angesprochen, dass mit dem Etikett etwas nicht stimmen könne, empört sich die Blondine sofort lautstark. Manipulation am Preisschild? Niemals! Ihre Freundin, deutlich kleiner und mit braunem, schulterlangem Haar, gibt ebenfalls die Fassungslose. Doch die Verkäuferin lässt sich davon nicht irritieren. Und als ihre Kollegin auf einem Tischchen im Laden zwei T-Shirts findet, an denen die Etiketten fehlen – rein zufällig zu je 15,99 – verschwinden letzte Zweifel, dass es sich doch um einen außergewöhnlichen Zufall handeln könnte, zumal zuvor der Laden komplett aufgeräumt war und in der Zwischenzeit niemand sonst im Raum. Das Verkaufsteam ruft die Polizei.
Der Fall landet ein paar Monate später vor Gericht, wo die große Blonde, eine Studentin Mitte 20 aus dem benachbarten Vorarlberg, sich wegen Betrugs verantworten muss und auch verurteilt wird. Pikantes Detail dieses Prozesses: Ihre 23-jährige Freundin, die sie damals in den Klamottenladen begleitet hat, schwört als Zeugin Stein und Bein, dass sie – noch bevor die Blondine in der Umkleide verschwand – das Etikett über 15,99 Euro mit eigenen Augen an den Jacken habe baumeln sehen.
Und weil der Richter damals schon weder der Blondine noch ihrer Freundin die Geschichte von den zufällig umetikettierten Klamotten abgekauft hat, stehen beide jetzt noch mal vor dem Amtsrichter – nun allerdings mit vertauschten Rollen: die Zeugin von damals wegen uneidlicher Falschaussage und die damals als Betrügerin Verurteilte als Zeugin.
Genauso erbarmungslos, wie die Sonne in den kleinen Sitzungssaal brennt und alle Prozessbeteiligten in ihrem eigenen Saft köcheln lässt, sagt ein sichtlich angesäuerter Staatsanwalt, als die Angeklagte ihre abenteuerliche Aussage von den Etiketten gebetsmühlenartig wiederholt: „Ich glaube, dass Sie lügen!“
Das wiederum empört den Verteidiger der Angeklagten. Er versucht, während er sich immer wieder den Schweiß von seiner Igelfrisur wischt und zusehends lauter wird, die Möglichkeit eines ungeheuer seltenen, aber dennoch theoretisch denkbaren Zufalls als entlastendes Argument einzuführen – beißt damit aber auf staatsanwaltlichen Granit. Der Ankläger holt seinerseits mit wachsender Ungeduld die Blondine in den Zeugenstand, wo diese behauptet: „Als man mich damals verurteilt hat, bin ich nur deshalb nicht in Berufung gegangen, weil mir das Geld dazu gefehlt hat.“Sie sei – ebenso wie die völlig zu Unrecht wegen deren Aussage angeklagte Freundin – unschuldig. „Ich bleibe dabei!“
Zuvor war auch die Verkäuferin von damals noch vernommen worden. Sie hatte festgestellt, dass sie sich in ihren 15 Jahren Berufsalltag an keinerlei wundersame Etikettenwanderung von T-Shirts zu Jacken erinnern könne. Betrügerische Manipulation von Kundenhand habe sie – inklusive des Vorfalls mit den beiden Freundinnen – genau zweimal erlebt. „Und dass die Etiketten schon von Herstellerseite falsch angebracht worden sind?“, fragt der Richter nach. „Ausgeschlossen.“
Mit Engelszungen
Dann beginnt eine Phase des engelszungenhaften Einredens auf die zwei Frauen, die trotz der goldenen Brücke zur Wahrheit, die ihnen das Gericht baut, bei ihrer hanebüchenen Aussage bleiben, sodass der Staatsanwalt – wohl auch ob der stickigen 35 Grad im Raum – kurzzeitig die Contenance verliert und sein Stimmvolumen voll ausschöpft, als er, zur Blondine gewandt, schreit: „Jetzt werd’ ich Sie halt der uneidlichen Falschaussage anklagen. Das können wir immer so weitermachen, bis sie beide im Gefängnis sitzen!“Der Satz hängt schwer im Raum – und die angeklagte Brünette tupft sich zwei Tränen aus den Augenwinkeln, als sie bei ihrem letzten Wort beteuert: „Ich kann nichts anderes sagen – es war nun mal so!“
Am Ende schenkt der Richter dem Faktischen Glauben und nicht dem Fantastischen. Die junge Frau erhält für ihre Falschaussage von damals fünf Monate Gefängnis auf Bewährung. Außerdem eine Geldstrafe in Höhe von 1200 Euro. Für das Geld hätte sie ihrer blonden Freundin auch zum regulären Preis von 39,99 Euro eine Jacke schenken können – genauer gesagt 30 Stück. Wie teuer die Sache beide Freundinnen noch zu stehen kommen wird, muss der nächste Prozess zeigen. Denn der Staatsanwalt erhebt tatsächlich Anklage gegen die blonde Studentin wegen uneidlicher Falschaussage, während die heute Verurteilte dann wieder als Zeugin geladen sein wird.