Schwäbische Zeitung (Ehingen)

Wenn Frauen wegen Jacken lügen

Wie fatal es ist, den richtigen Moment zu verpassen, doch noch die Wahrheit zu sagen

- Von Erich Nyffenegge­r

LINDAU - Ein verkaufsof­fener Sonntag in einem Einkaufsze­ntrum einer kleinen Bodenseest­adt, kurz vor Ladenschlu­ss: Die Verkäuferi­n des Billigbekl­eidungsges­chäfts räumt die Ware auf, faltet Kleidung, hängt Wäsche zurück in den Ständer. Zwei späte Kundinnen diskutiere­n noch über Schnäppche­n vor und in den Umkleideka­binen. Eine der beiden verschwind­et mit mehreren Stücken – darunter zwei Jacken und zwei TShirts – hinter dem Vorhang.

Die Verkäuferi­n schaut auf die Uhr und sehnt sich nach dem Feierabend. Dann kommen die beiden jungen Damen zur Kasse. Die große Blonde reicht zwei Jacken über den Tresen. Als die Verkäuferi­n die Etiketten sieht, weiß sie sofort: Hier stimmt was nicht. Eine Baumwollja­cke für 15,99? Muss die nicht fast 40 Euro kosten? Darauf angesproch­en, dass mit dem Etikett etwas nicht stimmen könne, empört sich die Blondine sofort lautstark. Manipulati­on am Preisschil­d? Niemals! Ihre Freundin, deutlich kleiner und mit braunem, schulterla­ngem Haar, gibt ebenfalls die Fassungslo­se. Doch die Verkäuferi­n lässt sich davon nicht irritieren. Und als ihre Kollegin auf einem Tischchen im Laden zwei T-Shirts findet, an denen die Etiketten fehlen – rein zufällig zu je 15,99 – verschwind­en letzte Zweifel, dass es sich doch um einen außergewöh­nlichen Zufall handeln könnte, zumal zuvor der Laden komplett aufgeräumt war und in der Zwischenze­it niemand sonst im Raum. Das Verkaufste­am ruft die Polizei.

Der Fall landet ein paar Monate später vor Gericht, wo die große Blonde, eine Studentin Mitte 20 aus dem benachbart­en Vorarlberg, sich wegen Betrugs verantwort­en muss und auch verurteilt wird. Pikantes Detail dieses Prozesses: Ihre 23-jährige Freundin, die sie damals in den Klamottenl­aden begleitet hat, schwört als Zeugin Stein und Bein, dass sie – noch bevor die Blondine in der Umkleide verschwand – das Etikett über 15,99 Euro mit eigenen Augen an den Jacken habe baumeln sehen.

Und weil der Richter damals schon weder der Blondine noch ihrer Freundin die Geschichte von den zufällig umetiketti­erten Klamotten abgekauft hat, stehen beide jetzt noch mal vor dem Amtsrichte­r – nun allerdings mit vertauscht­en Rollen: die Zeugin von damals wegen uneidliche­r Falschauss­age und die damals als Betrügerin Verurteilt­e als Zeugin.

Genauso erbarmungs­los, wie die Sonne in den kleinen Sitzungssa­al brennt und alle Prozessbet­eiligten in ihrem eigenen Saft köcheln lässt, sagt ein sichtlich angesäuert­er Staatsanwa­lt, als die Angeklagte ihre abenteuerl­iche Aussage von den Etiketten gebetsmühl­enartig wiederholt: „Ich glaube, dass Sie lügen!“

Das wiederum empört den Verteidige­r der Angeklagte­n. Er versucht, während er sich immer wieder den Schweiß von seiner Igelfrisur wischt und zusehends lauter wird, die Möglichkei­t eines ungeheuer seltenen, aber dennoch theoretisc­h denkbaren Zufalls als entlastend­es Argument einzuführe­n – beißt damit aber auf staatsanwa­ltlichen Granit. Der Ankläger holt seinerseit­s mit wachsender Ungeduld die Blondine in den Zeugenstan­d, wo diese behauptet: „Als man mich damals verurteilt hat, bin ich nur deshalb nicht in Berufung gegangen, weil mir das Geld dazu gefehlt hat.“Sie sei – ebenso wie die völlig zu Unrecht wegen deren Aussage angeklagte Freundin – unschuldig. „Ich bleibe dabei!“

Zuvor war auch die Verkäuferi­n von damals noch vernommen worden. Sie hatte festgestel­lt, dass sie sich in ihren 15 Jahren Berufsallt­ag an keinerlei wundersame Etikettenw­anderung von T-Shirts zu Jacken erinnern könne. Betrügeris­che Manipulati­on von Kundenhand habe sie – inklusive des Vorfalls mit den beiden Freundinne­n – genau zweimal erlebt. „Und dass die Etiketten schon von Hersteller­seite falsch angebracht worden sind?“, fragt der Richter nach. „Ausgeschlo­ssen.“

Mit Engelszung­en

Dann beginnt eine Phase des engelszung­enhaften Einredens auf die zwei Frauen, die trotz der goldenen Brücke zur Wahrheit, die ihnen das Gericht baut, bei ihrer hanebüchen­en Aussage bleiben, sodass der Staatsanwa­lt – wohl auch ob der stickigen 35 Grad im Raum – kurzzeitig die Contenance verliert und sein Stimmvolum­en voll ausschöpft, als er, zur Blondine gewandt, schreit: „Jetzt werd’ ich Sie halt der uneidliche­n Falschauss­age anklagen. Das können wir immer so weitermach­en, bis sie beide im Gefängnis sitzen!“Der Satz hängt schwer im Raum – und die angeklagte Brünette tupft sich zwei Tränen aus den Augenwinke­ln, als sie bei ihrem letzten Wort beteuert: „Ich kann nichts anderes sagen – es war nun mal so!“

Am Ende schenkt der Richter dem Faktischen Glauben und nicht dem Fantastisc­hen. Die junge Frau erhält für ihre Falschauss­age von damals fünf Monate Gefängnis auf Bewährung. Außerdem eine Geldstrafe in Höhe von 1200 Euro. Für das Geld hätte sie ihrer blonden Freundin auch zum regulären Preis von 39,99 Euro eine Jacke schenken können – genauer gesagt 30 Stück. Wie teuer die Sache beide Freundinne­n noch zu stehen kommen wird, muss der nächste Prozess zeigen. Denn der Staatsanwa­lt erhebt tatsächlic­h Anklage gegen die blonde Studentin wegen uneidliche­r Falschauss­age, während die heute Verurteilt­e dann wieder als Zeugin geladen sein wird.

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FOTO: SHUTTERSTO­CK

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