Verein für bewegende Dramen
Der fünfmalige deutsche Fußballmeister VfB Stuttgart wird 125 Jahre jung, ein stetes Auf und Ab zeichnet ihn aus
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STUTTGART - Er muss ein anderer Sport gewesen sein, dieser Fußball, damals, in den 70er- und 80er-Jahren. Wer in den Archiven die Bilder begutachtet, stellt plötzlich fest: Die lebten ja, die Kicker, die hatten Humor, den Mut, anders zu sein, weg vom Mainstream. Die schafften es ja tatsächlich, ihre Masken auch mal abzulegen, ließen die Fotografen in die Kabine und zeigten sich als Mensch. Von Günther Schäfer etwa gibt es hinreißende Fotos, wie er im Mai 1992 seinen Spezl Maurizio Gaudino küsst – grinsend, und nur ein ganz klein wenig gestellt. Zuweilen ist auch Gerhard MayerVorfelder zwischen den beiden, der Chef kann sich vor Lachen kaum retten. Außerdem sind auf unzähligen Bildern Stuttgarter Spieler unzählige alkoholische Getränke zu erkennen.
Das Bild zeigt die feuchtfröhliche Meisterschaft des VfB Stuttgart von 1992. Dass sich Günther Schäfer, verheirateter Vater zweier Kinder, zumindest ein wenig für die Bildchen schämt, zeigt, wie sich nicht nur der Fußball verändert hat, sondern seine Protagonisten gleich mit. Schäfer sagt vorsichtig, dass man das Bild in der heutigen Zeit, in der man so was nicht mehr gewohnt sei, durchaus falsch verstehen könnte – keine Sorge, wir nehmen das mit Mayer-Vorfelder.
Der VfB Stuttgart, Baden-Württembergs Fußballstolz, fünfmaliger deutscher Meister und Fünfter in der Ewigen Bundesligatabelle, wird am Sonntag 125 Jahre alt. Kaum einer kennt und vertritt ihn so gut wie Schäfer, der 1975 zum Club kam und 16 Jahre für die Profis spielte, ehe es ihn zwei Jahre nach Bielefeld verschlug. Später leitete der 56-Jährige die VfB-Fußballschule, heute ist er Teammanager und -organisator. Wie außer ihm in der BundesligaÄra nur Guido Buchwald, schnappte Schäfer sich gleich zweimal die Schale, 1984 und 1992.
Ein Fallrückzieher ins Glück
Der Fußball der Schäfer-, Allgöwer-, Hansi-Müller- und frühen Klinsmann-Zeit war übrigens nicht nur humorvoller, er war auch spannender. Drei punktgleiche Mannschaften konnten am letzten Spieltag 1992 noch Meister werden. Der VfB hatte die geringsten Chancen – und lag gleich mal zurück in Leverkusen. Bis das Schäferstündchen schlug. Schäfer, Typ beinharter Innenverteidiger, der den gegnerischen Stürmer überallhin verfolgte – wenn es sein musste aufs Klo, in die Mittagspause, zum Reifenwechsel – beschloss allerdings, nicht aufzugeben und vor allem: bloß kein weiteres Tor zuzulassen. Als Leverkusens Andreas Thom den Ball quasi schon ins Tor geköpft hatte, sprang Schäfer hinterher und schlug ihn per Fallrückzieher von der Linie. Der VfB gewann dank Buchwalds spätem Tor 2:1, die anderen leisteten Schützenhilfe, plötzlich war Stuttgart Meister – was die völlig entrückten Schäfer-Gaudino-MV-Bilder zu nachtschlafener Partyzeit erklärt.
Es kommt selten bis nie vor, dass nach einer gewonnenen Meisterschaft alle von einem Verteidiger sprechen. Bei Schäfer aber tun sie es noch heute, und der Matchwinner von einst ist noch immer stolz darauf. „Normalerweise stehen immer die Stürmer im Fokus, die Torschützen, aber ich werde sehr oft und gerade zurzeit wieder auf die Szene 1992 angesprochen. Ich hatte wirklich einen guten Tag, vier-, fünfmal hab ich in höchster Not geklärt“, sagt er, und: „Klar war das wichtig: Ein 0:2 hätten wir wohl nicht mehr aufgeholt.“
Stuttgart feierte also, Stuttgart war außer Rand und Band. Wie das aussehen kann in dieser verrückten Fußballstadt, sah man auch 15 Jahre später, als 200 000 Fans die Straßen der Stadt säumten und für die fahrende Meistereskorte um Trainer Armin Veh Spalier standen. „Wir sind der VfB, eine Familie und füreinander da, auch in schlechten Zeiten. Ich bin heute noch den Leuten dankbar, die sich in der Jugend um mich gekümmert haben, ich durfte ja erst in der AJugend erstmals in der Landesauswahl spielen. VfBler halten zusammen – deshalb bin ich hier seit 43 Jahren“, sagt Schäfer mit viel Pathos.
Ralf Rangnick dürfte den VfB sicher ambivalenter sehen. Vor sechs Jahren erzählte der Backnanger einmal, wie das war, damals, 2001, als er mit seinem Heimatverein im Abstiegskampf stand und später entlassen wurde. Wie er sich fühlte, als er den Rückhalt von Mittelfeldstar Krassimir Balakov verlor und Tausende im Neckarstadion alle zwei Wochen „Rangnick raus“riefen, ihn verspotteten. Und vor allem, wie seine Kinder heimkamen und weinten, weil sie gemobbt und belästigt wurden. Ihr Papa sei schuld, dass Stuttgart wieder verloren hatte, hieß es in der Schule. Kinder und VfB-Fans können grausam sein, und zuweilen auch VfB-Spieler, wenn sie beschlossen haben, nicht zu kooperieren.
Die Geschichte des VfB Stuttgart 1893 e.V., dessen bekannteste Insignien zu Ehren des Geburtstags ab heute im Mercedes-Museum in einer Sonderausstellung zu bestaunen sind, war eben ein stetes Auf und Ab – mit manchmal fernsehturmhohen Amplituden. Wolfgang Dietrich, der mit Rangnicks Vater Fußball spielte und seit zwei Jahren der Präsident ist, brachte es in einer Mitteilung akademisch und mit Augenzwinkern auf den Punkt. „Die Entwicklung des VfB Stuttgart war keine lineare, sondern vielmehr eine Abfolge von Entwicklungssprüngen und auch Rückschlägen – der Verein für Bewegungsspiele hat seinem Namen damit immer Ehre gemacht. Er war und ist bis heute immer in Bewegung geblieben“, erklärte Dietrich, der selbst für am meisten Bewegung sorgte. Vor zwei Jahren übernahm er als Mann der Finanzen, des Kapitals und zudem als Ex-Sprecher des die Stadt spaltenden Bahnprojekts „Stuttgart 21“den Club – nach dem größten Rückschlag seit 41 Jahren, dem Abstieg. Und wie 1975 Mayer-Vorfelder, der den Verein 25 Jahre lang als Patriarch anführte, könnte Dietrich eines Tages in den Clubannalen unter R wie Retter auftauchen. Ohne die Ausgliederung der Profiabteilung, die selbst Kommer-zialisierungsskeptiker wie Karl Allgöwer gutheißen (siehe Sport), und Dietrichs umstrittenen Trainerwechsel 2017, hätte der VfB die Vorsaison wohl nie und nimmer auf Rang sieben beendet – und als Rückrundenzweiter.
Im Spätherbst fällt der Trainer
Dass der VfB drei Monate später wieder Letzter ist, ist fast schon gewohntes Drama bei einem Club, der sich eine Zeit lang fast einen Spaß zu machen schien aus seinen Fehlstarts, auf die im Spätherbst jeweils ein Trainerwechsel und eine glänzende Rückrunde folgten, ehe das Theater wieder von vorne losging. Zwanzig Trainer verschliss der Club in den extrem wechselhaften Jahren seit 1991, zahllose Manager und Präsidenten. Nichts Besonderes gleichwohl, in anderen Clubs, etwa beim HSV, Schalke oder Wolfsburg, lief es ähnlich.
Speziell – und ein nationales Vorbild – war der VfB in all den Jahren vor allem in einem – seiner Jugendarbeit. Lange Zeit war er Rekordmeister bei den A- und B-Junioren, zahllose Stars wie die Förster-Brüder, Sami Khedira, Mario Gomez oder eben Schäfer gingen aus der VfB-Jugend hervor. Bis 2006, ehe eben jener einst vom Hof gejagte Rangnick, in den 90ern Jugendtrainer und Nachwuchschef beim VfB, damit begann, die Stuttgarter quasi zu entzaubern, vorzuführen – und auch ein wenig auszurauben.
Der ehemalige Ulmer Meistertrainer schuf in Hoffenheim die inzwischen neben Dortmund wohl beste Nachwuchsakademie Deutschlands, nutzte sein Netzwerk und luchste dem VfB zahllose auch verkannte Talente ab – später in Leipzig noch die Trainergurus Frieder Schrof und Thomas Albeck, die jahrzehntelang die Erfolge der VfB-Jugend ermöglicht hatten. Rangnick hat den Blick für Talente – und er hatte die Mäzene im Boot. Dank Red Bull schnappte er sich auch Joshua Kimmich oder Timo Werner, Stuttgarts letzte Supertalente, während Manager Fredi Bobic beim VfB mit viel weniger Geld jahrelang vor sich hin dilettierte.
Die Nationalspieler-Schmiede
Den Nachwuchs muss der VfB wieder aufbauen, Rekorde hälte er noch immer: Gleich sechs aktuelle deutsche WM-Spieler wurden in Stuttgart ausgebildet oder dort zu Bundesligaprofis, weitere wie Serge Gnabry, Thilo Kehrer und Bernd Leno dürften folgen. Auch die Trainer – Joachim Löw, Thomas Schneider und Marcus Sorg –, waren dort aktiv. Löw wurde 1997 mit dem VfB Pokalsieger und stand 1998 im Finale des Pokalsieger-Cups, ehe ihn Mayer-Vorfelder entließ.
Dass Löw mit diversen Ex-Stuttgartern 2014 Weltmeister wurde und 2018 nur noch 32., passt zum Himmelhochjauchzend und Zu-Tode-betrübt des VfB wie die Faust auf die Glotzbebbel, wie Schwaben zu ihren Augen sagen. Bei diesem Club, da weiß man nie, da muss man auf alles gefasst sein, auf plötzliche Sensationstitel und plötzliche Abstiege – dazwischen gibt es nur wenig. Und genau das macht den VfB Stuttgart von 1893 aus. Ganz viel Drama, ganz viel Emotion.
Auch Günther Schäfer musste das schmerzlich erfahren, 1989, im Finalhinspiel des UEFA-Cups in Neapel. „Da liefen komische Dinge, die Schiris pfiffen komplett gegen uns“, sagt Schäfer. 1:0 führte der VfB, dann schoss Diego Maradona durch Schäfers grätschende Beine, und von dort sprang der Ball an Schäfers Hand an seinem Rücken. Der Schiri pfiff Elfmeter, Neapel gewann noch 2:1 und holte sich nach dem 3:3 im Rückspiel die Trophäe. Das Gemeine war: Maradona hatte sich den Ball in besagter Szene zuvor in bewährter Manier mit der Hand vorgelegt.
Wäre die Hand weggeblieben, hätte Günther Schäfer Diegos Versuch vermutlich per Fallrückzieher von der Linie bugsiert, und der VfB Stuttgart dürfte sich heute Hand-GottesBesieger nennen. So ist auf dem Briefkopf noch ein wenig Platz für das derzeitige Bundesliga-Schlusslicht. Die nächsten 125 Jahre können kommen.