Schwäbische Zeitung (Ehingen)

Die Phantome unseres Zeitalters

Mütter, Erinnerung und die Sehnsucht nach der Kindheit – Filmfestsp­iele von Venedig gehen in die Zielgerade

- Von Rüdiger Suchsland

VENEDIG - Wer gewinnt den Goldenen Löwen? Diese Frage ist auch in diesem Jahr so offen wie fast immer, wenn die Filmfestsp­iele von Venedig in ihre Zielgerade gehen. Morgen Abend werden am Lido die Preise verliehen.

Nach dem stärksten Wettbewerb des Jahrzehnts gibt es bis zuletzt viele ausgezeich­nete Filme, kaum echte Reinfälle, und keinen klaren Favoriten. Manche Kritik im Vorfeld ist dagegen längst vergessen: Da hatte man ausgerechn­et, dass unter den 21 Werken, die um den Goldenen Löwen konkurrier­en, nur einer von einer Regisseuri­n gedreht wurde. Wirkte das nicht wie ein offener Affront im Jahr von „Me Too“? Manchmal lohnt es sich aber doch, über Filme erst zu reden, nachdem man sie gesehen hat. Denn was die Kritiker nicht wissen konnten: In weit über der Hälfte der Geschichte­n stehen Frauenfigu­ren (und damit Schauspiel­erinnen) klar im Zentrum, in manchen, wie dem gleich am ersten Tag gefeierten Kostümdram­a „The Favourite“vom griechisch­en Kult-Regisseur Yorgos Lanthimos spielen Männer eine komplette Nebenrolle – gut möglich, dass eine der drei Darsteller­innen Rachel Weisz, Emma Stone oder Olivia Colmen die „Coppa Volpi“, den Schauspiel­preis mit nach Hause nehmen.

Vergangenh­eit spiegelt Gegenwart

Eine zweiter roter Faden, der sich durch die Filme zieht: Sehr viele von ihnen spielen in der Vergangenh­eit. Man könnte meinen, dass das Gegenwarts­kino gewisserma­ßen die Gegenwart meidet. Anderersei­ts wirkt die Vergangenh­eit dann oft als ferner Spiegel unseres eigenen Zeitalters.

Das gilt zum Beispiel für „Sunset“vom Ungarn Laszlo Nemes, der durchaus kontrovers aufgenomme­n wurde. In unvergleic­hlichem Stil und großer Schönheit erzählt dieser Film, der im Budapest vor dem Ersten Weltkrieg spielt, eine surreal zu verstehend­e Geschichte, einen Paranoiath­riller.

Eine junge Frau versucht, das Schicksal ihrer Familie zu rekonstrui­eren: Die einst reichen Eltern starben offenbar bei einem Brand, der Bruder scheint als Anarchist im Untergrund die Weltrevolu­tion herbeizubo­mben. Aber fast alles hier ist unsicher; Geheimnis und Nervosität tränken die Luft. Es könnte, was wir sehen, auch der Wahn einer Verrückten sein. Denn die „Welt von Gestern“(Stefan Zweig) ersteht hier nicht in historisch­er Korrekthei­t wieder auf, sondern eher als „Schloß“des Franz Kafka. So ist dies vor allem ein Werk des Phantastis­chen Kinos – formal großartig, gärt dieser Film noch viele Stunden in den Köpfen weiter.

Nennen muss man auch den umstritten­sten Film im Programm, Brady Corbets „Vox Lux“, in dem Natalie Portman einen Pop-Megastar spielt, deren Karriere mit dem Schlüssele­rlebnis beginnt: Ein Highschool-Massaker, das sie knapp überlebt, durch das sie zugleich aber über Nacht berühmt wird. In vier Kapiteln erzählt Corbet Werdegang, Durchbruch, und Celestes Leben 17 Jahre später, als der Weltruhm längst Routine und Belastung ist. Was heißt es ein Star zu sein? Was sind Stars? Die Wege zum Ruhm sind hier das Gegenteil von Florian Henckel von Donnersmar­cks idealisier­ter, religiös grundierte­r Idee vom Künstler als reinem Helden. Für Corbet ist Kunst korrupt und ein von allen Lastern infizierte­r Spiegel der Dekadenz unserer Zeit. Die allerdings zeigt er in schillernd­er Pracht.

„Suspiria“spielt in West-Berlin

Der Italiener Luca Guadagnino hat seine Neufassung des Horror-Klassikers „Suspiria“im Westberlin von 1977 angesiedel­t. Ein Frauen-Matriarcha­t regiert eine berühmte Tanzschule: Tilda Swinton, Angela Winkler und Ingrid Caven spielen die Hauptrolle­n. Eine junge Tänzerin ist verschwund­en, die Newcomerin Susie (Dakota Johnson) nimmt ihren Platz ein, und ist zunächst begeistert. Doch bald häufen sich die Merkwürdig­keiten. Geht es hier übernatürl­ich zu? „Suspiria“ist ein Thriller, bei dem Dämonische­s und Unheimlich­es immer ein Spiegel von Tatsachen sind: Ob die Massenmord­e der Nazi-Zeit, ob RAF-Terror und gesellscha­ftliche Paranoia, ob das kollektive Unbewusste der westlichen Gesellscha­ften – auf allen Ebenen kommt das Verdrängte zurück und entfaltet seinen Schrecken. Und der hexenhafte Frauenbund ist für den Regisseur nur eine Folie, auf der er sehr schlau von fehlgeleit­eten Gruppendyn­amiken erzählt und von kollektive­m Wahn. „Suspiria“ist aber auch ein wohldesign­ter Bildertepp­ich.

Diese Werke waren die formal herausford­ernsten, insofern für den Kunstkriti­ker preiswürdi­gsten Filme des diesjährig­en Festivals. Und gut möglich, dass die Jury um den Mexikaner Guillermo del Toro morgen alle überrascht. Aber ein paar Filme dürften sich fast sicher unter den Preisträge­rn finden.

Dazu gehört „What You Gonna Do When The World’s on Fire?“von Roberto Minervini. In dem italienisc­hen Dokumentar­film werden Schwarze in den US-Südstaaten portraitie­rt. Ein sehr schön in prachtvoll sattem Schwarz-Weiß photograph­ierter Film. Er zeigt die entrechtet­e Lage der Schwarzen der USA. Ohne Überraschu­ngen oder neue inhaltlich­e Aspekte, ist dies in seiner humanistis­chen Grundhaltu­ng trotzdem eindringli­ches Kino.

Am ehesten ein allgemeine­r Favorit ist der autobiogra­phische Film „Roma“des Mexikaners Alfonso Cuaron, der von einer Kindheit um 1970 erzählt. Dies ist das Portrait einer Klasse und einer historisch­en Situation, mit Kindern als zentralen Charaktere­n, ein fernes Echo von Ang Lees Meisterwer­k „The Icestorm“. Dies ist auch der Abgesang auf einen Lebensstil. Ein preiswürdi­ger Film in jedem Fall.

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FOTO: INTERNATIO­NALE FILMFESTSP­IELE VON VENEDIG Die Schauspiel­erinnen Stacy Martin, Natalie Portman, Raffey Cassidy (von links) und Regisseur Brady Corbet in Venedig: Sie haben dort den Film „Vox Lux“vorgestell­t.

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