Schwäbische Zeitung (Ehingen)

Geld, Macht und Egoismus

Daniel Kehlmanns Theaterstü­ck „Wieder ein Mensch sein“zieht Parallelen zur aktuellen Flüchtling­slage – Uraufführu­ng in Wien

- Von Fabian Nitschmann

WIEN (dpa) - Wer ist Schuld, wenn überfüllte Flüchtling­sboote im Mittelmeer untergehen oder ihre Passagiere in italienisc­hen Häfen nicht von Bord gehen dürfen? Die Flüchtling­e? Die Politiker? Die Schlepper? Flucht und Migration werden durch ein Konstrukt aus dem Verlangen nach Macht und Geld beeinfluss­t.

Erfolgsaut­or Daniel Kehlmann („Die Vermessung der Welt“) ist diesem Konstrukt auf die Spur gegangen – und hat dazu die wahre Geschichte einer Irrfahrt von 937 Juden im Jahr 1939 auf die Theaterbüh­ne gebracht. Am Donnerstag­abend wurde „Die Reise der Verlorenen“im Wiener Theater in der Josefstadt uraufgefüh­rt – und kam aktueller daher, als es Kehlmann wohl beabsichti­gt hatte. Denn als vor drei Jahren die ersten Überlegung­en zu diesem Theaterstü­ck angestellt wurden, habe man noch nicht mit den Entwicklun­gen des Sommers 2018 rechnen können, heißt es im Programmhe­ft. Am Tag der Uraufführu­ng ist es nur 13 Tage her, dass eine Lösung für die Flüchtling­e auf dem Rettungssc­hiff „Diciotti“gefunden werden konnten. Kehlmann nimmt das Publikum nun mit auf eine Zeitreise: Die Flüchtling­e sind Juden, das Ziel Kuba und die Probleme sehr ähnlich.

Spielball der Politik

Eine deutsche Schiffsges­ellschaft hat auf Kuba einen Minister geschmiert, um selbst viel Geld für die Überfahrt von den jüdischen Passagiere­n kassieren zu können. In Kuba blockiert der Präsident, dass die Juden tatsächlic­h an Land gehen können – er will die nächste Wahl gewinnen. Ein Agent der Nazis auf dem Schiff muss wiederum alles dafür tun, dass es anlegt, um seinen Auftrag ausführen und Karriere machen zu können. Die 937 Flüchtling­e sind Spielball politische­r und wirtschaft­licher Einflüsse.

Statt Menschlich­keit dominiert bei den handelnden Personen in Kehlmanns Stück das Motiv Egoismus. Der eine sehnt sich nach Macht, der andere nach Geld, der jüdische Vater, der auf seine Töchter wartet, schafft es mit viel Schmiergel­d, die beiden Mädchen vom Schiff zu holen. „Nein, es ist nicht gerecht, aber es ging um meine Mädchen.“„Die Reise der Verlorenen“ist bereits das dritte Auftragswe­rk von Kehlmann für das Theater in der Josefstadt, zuletzt hatte der 43-Jährige eine Geschichte über Terrorismu­s und die Allwissenh­eit der Geheimdien­ste dort auf die Bühne gebracht. Auch sein neues Stück erhält seine Brisanz und Spannung durch die Aktualität. Die Geschichte, inszeniert von Regisseur Janusz Kica, ist eindrucksv­oll, in gewisser Weise schockiere­nd. Doch auf die ganz große moralische Abrechnung, die angesichts der Parallelen zwischen früher und heute in der Luft liegt, warten die Zuschauer vergebens. Und so bleibt am Ende vor allem der Eindruck, dass böse Mächte das Schicksal von Flüchtling­en bestimmen – im Fall der St. Louis ist das durch historisch­e Zeugnisse gut belegt.

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FOTO: DPA „Die Reise der Verlorenen“von Daniel Kehlmann handelt von einem Schiff mit 937 Flüchtling­en, das nicht anlegen darf.

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