Schwäbische Zeitung (Ehingen)

„Auf der anderen Seite stehen nicht nur Idioten“

„Deutschlan­d spricht“: Thomas Rieger und Hendrik André Müller sind sich selten einig – und trotzdem froh über ihr Gespräch

- Von Stefan Fuchs

STUTTGART - Wenn sich zwei streiten, freut sich die Demokratie. Thomas Rieger und Hendrik André Müller glauben beide, dass das Miteinande­rsprechen, die konstrukti­ve Meinungsve­rschiedenh­eit zu den Grundlagen einer freien Gesellscha­ft gehören. Deshalb haben sie sich in Stuttgart für die Aktion „Deutschlan­d spricht“auf einen Kaffee getroffen – obwohl sie fast nichts voneinande­r wissen. Zwei völlig unterschie­dliche Menschen mit völlig unterschie­dlichen Meinungen.

Beim Kuchen allerdings sind sich Thomas Rieger und Hendrik André Müller einig: Beide wählen einen mit Creme und Schokolade. Vorerst bleibt es allerdings bei diesem Konsens. Das bestimmend­e Thema der Diskussion wird über mehrere Stunden die Frage der Integratio­n von Muslimen sein. Ob es um Asyl geht oder um bezahlbare­n Wohnraum – immer wieder kommen die beiden darauf zu sprechen, ob Muslime in Deutschlan­d leben und glauben sollen oder nicht. „Ich finde: Nein. Ich bin in der Hinsicht ein Hardliner“, sagt Thomas Rieger. „Mich stört einfach, wenn eine Religion sich herausnimm­t, andere als Ungläubige zu bezeichnen.“Hendrik André Müller widerspric­ht: „Aber die meisten Muslime leben doch ganz normal in unserer Gesellscha­ft. Ich stehe ein für die Religionsf­reiheit.“

Die beiden Männer am Cafétisch am Vaihinger Markt unterschei­den sich nicht nur in ihrer Haltung zum Islam. Rieger, 51, ist über zwei Meter groß, kräftig gebaut und sitzt breitbeini­g im Stuhl. Er beschreibt sich als einen „weltoffene­n Schwaben“, in „Zürich geboren, in Saudi-Arabien in eine philippini­sche Frau verliebt und in Dänemark geheiratet“. Heute arbeite er als Bundespoli­zist in Böblingen.

Der 19-jährige Müller ist etwas über 1,70 Meter groß, hager und nachdenkli­ch. Leiser als der andere, aber nicht minder fest in seinen Überzeugun­gen. Der geborene Stuttgarte­r ist Nachfahre von Donauschwa­ben: „Die Flüchtling­svergangen­heit liegt in der Familie.“Er steht kurz vor einem Jurastudiu­m in Halle an der Saale.

Müller hat Verständni­s für den deutschen Weg in der Asylpoliti­k. Bei der Anmeldung zu „Deutschlan­d spricht“hat er angekreuzt, dass Deutschlan­d seine Grenzen nicht stärker kontrollie­ren sollte. „Wir leben global gesehen in einem unglaublic­h reichen Land. Es ist unsere humanitäre Verantwort­ung, Menschen, die auf der Flucht vor Krieg und Terror sind, aufzunehme­n. Gerade weil unser Wohlstand nicht allein unser Verdienst ist.“Rieger ist eher dem ungarische­n und polnischen Weg zugetan: „Sehen Sie doch mal, wie Orbán das macht. Ein Land muss die Freiheit haben zu sagen: Nein, diese Leute wollen wir nicht.“Müller kontert: „Das Verhalten dieser Staaten ist für mich verantwort­ungslos. Die Flüchtling­e verschwind­en ja nicht, nur weil man die Grenzen schließt. So verlagert sich das Problem nur immer weiter.“

Die Positionen sind verfestigt. Keiner ist bereit, dem anderen zuzustimme­n. Rieger will mehr deutsche Werte, mehr Anpassung und Gesetzestr­eue. Er bezeichnet sich als „Verfassung­spatriot“, die Religionsf­reiheit und das Asylrecht klammert er dabei allerdings aus. Müller wünscht sich mehr Verantwort­ung und mehr Geduld bei der Integratio­n. Beide Gesprächsp­artner sitzen sich teils mit verschränk­ten Armen gegenüber, lehnen sich weit zurück und schaffen damit Platz für die Worte, die sie sich über den Tisch hinweg entgegenwe­rfen.

Mehr Einigkeit herrscht, als die beiden auf den Verkehr zu sprechen kommen – in Stuttgart ein Thema, das sich aufdrängt. Der Tenor: Es muss sich etwas ändern, die Stadt braucht eine Atempause vom Feinstaub. „Ich kann mir autofreie Innenstädt­e gut vorstellen“, sagt Müller. „Natürlich mit Ausnahmen für Einsatzkrä­fte.“Rieger schränkt ein: „Das muss dann aber auch für Handwerker und Lieferdien­ste gelten – dann kann man es auch gleich lassen.“Dass aber Verbrennun­gsmotoren auf Dauer verbannt werden sollen, findet auch er. „Nur sehe ich da die große Lösung noch nicht.“Bei diesem Thema bewegen sich beide aufeinande­r zu, das Gespräch wird offener, genau wie die Körperhalt­ung. Wo sich vorher verschränk­te Arme und skeptische Blicke trafen, wird jetzt gestikulie­rt, Rieger lehnt sich zum Zuhören über den Tisch. Es ist keine Übereinsti­mmung in allen Punkten – der eine will weg vom Individual­verkehr, der andere betont die Wichtigkei­t der individuel­len Freiheit –, aber hier diskutiere­n beide konstrukti­v, suchen gemeinsam nach Lösungen.

Entspreche­nd positiv fällt am Ende dann trotz aller Meinungsve­rschiedenh­eiten das Fazit aus. Müller ist froh, eine andere Perspektiv­e kennengele­rnt zu haben. Zu Rieger sagt er: „Sie haben durch Ihre Arbeit einen Einblick, den nicht alle bekommen. Klar, Sie sehen vor allem das, was nicht läuft. Aber ich kann davon durchaus etwas mitnehmen.“Rieger ist froh, den Schritt zu „Deutschlan­d spricht“gewagt zu haben. „Man bekommt Argumente ab, die man sonst nicht wirklich hört. Man merkt: Auf der anderen Seite stehen nicht nur Idioten. Ich hoffe, ich war nicht zu rechthaber­isch – manchmal passiert mir das.“Ein versöhnlic­her Abschluss. Am Ende, als der Kuchen weg ist und die Argumente ausgetausc­ht sind, geben sich beide die Hand.

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FOTO: FUCHS Treffen der Gegensätze: Hendrik André Müller (links) und Thomas Rieger im Café am Vaihinger Markt.
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