Vor der Revolution
San Sebastián ist noch immer das Festival für selbstbewusstes Autorenkino
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SAN SEBASTIAN - Ausnahmezustände, Elitenversagen und Polizeiwillkür: Beim Filmfestival im baskischen San Sebastián erzählen viele Filme von vorrevolutionären Situationen.
25 Jahre sind Ana und Marcos verheiratet, jetzt geht der gemeinsame Sohn aus dem Haus. Und eines Abends sitzen die beiden bei einem Glas Wein zusammen und fragen sich: Was soll da noch kommen? Weil sie keine rechte Antwort finden, außer dem Warten aufs Enkelkind in vielleicht zehn Jahren, und weil sie nicht so nebeneinander dahinvegetieren wollen, wie ihre fremdgehenden Freunde, beschließen sie, sich zu trennen. Sie bleiben gute Freunde, haben aber kurze Affären und irgendwann neue Partner. „El Amor Menos Pensado“(wörtlich etwa „Eine kaum erwartete Liebe“) heißt der argentinische Film, der diese Geschichte erzählt. Regie führte Juan Vera, die Hauptrollen spielen Argentiniens Superstar Ricardo Darin und Mercedes Morán. Ihnen ist zu verdanken, dass dieses kluge Kammerspiel über Liebe, Leben und das Altern bis zum Ende sehr altersweise bleibt.
Neues im 66. Jahr
Mit 66 Jahren, da fängt das Leben an, sang einst Udo Jürgens, und so geht es auch dem Festival in der baskischen Hauptstadt: Denn mit seiner 66. Ausgabe verjüngt man sein Design, streicht die überbordende Zahl der Sektionen zusammen und popularisiert das Programm – auch im schlechten Sinn: Eine Retrospektive wurde gestrichen, dafür gibt es mehr Entertainment am Rand. San Sebastián ist international das viertwichtigste Filmfestival. Nicht so Hollywood-lastig wie Cannes oder Venedig, ist der Wettbewerb um die Goldene Muschel von hochkarätigem internationalem Autorenkino geprägt. Und kein A-Festival zeigt mehr Werke von Frauen: Unter anderem erleben die neuen Filme von Claire Denis, Naomi Kawase und Iciar Bollain ihre Weltpremiere.
Auffallend viele Kostümfilme
Die Portugiesin Valeria Sarmiento erzählt mit „The Black Book“eine furiose Geschichte, die einem frühromantischen Abenteuerroman entstammen könnte: Mägde, die zu Prinzessinnen werden, Prinzessinnen, die als Wäscherinnen enden, Kardinäle mit illegitimen Kindern und einem giftmordenden Hofmohr – ein zweistündiges Vexierspiel aus dem Europa zwischen 1780 und 1800, das sich nicht scheut, als Nebenfiguren Marie-Antoinette, Charlotte Corday und Napoleon Bonaparte auftreten zu lassen. Das ist eine geistreiche Kolportage irgendwo zwischen „Flucht nach Varennes“und dem „Kurier der Kaiserin“.
Solche Zeiten, kurz bevor Revolutionen ausbrechen, bilden den Hintergrund mehrerer Filme. Der bisher beste von ihnen ist „Rojo“des Regisseurs Benjamin Naishtat aus Argentinien. Angesiedelt im Jahr 1975, als der kommende Militärputsch bereits seine Schatten vorauswirft, wird in dem Film die Familie eines scheinheiligen Anwalts porträtiert. In absurder Komik wird von Lebenslügen und moralischen Konflikten erzählt. Der Titel, der „Rot“bedeutet, verweist sowohl auf die Hautfarbe der Ureinwohner, die politische Gesinnung mancher Figuren wie den Stillstand, in dem sich ein Land befindet, das spürt, dass die Zukunft nur schlechter sein kann als die Gegenwart.
Eine Sozialstudie
Für politischen Tiefgang sorgte auch der Film des philippinischen Regisseurs Brillante Mendoza: „Alpha, The Right To Kill“ist zwar ein harter Polizeifilm, der mit einer virtuos inszenierten Razzia bei der Drogenmafia beginnt und zunächst an die Männerund Gewaltballette eines Michael Mann erinnert. Doch Mendoza, vor zehn Jahren der aufgehende Stern am Himmel des asiatischen Kinos, steht auch in der Tradition der Neorealisten, und so zeigt er den Alltag der kleinen Leute und macht klar, was Drogenhandel im diesem Land auch bedeutet: Die Möglichkeit, die Familie zu ernähren und überhaupt zu überleben.
Vor allem aber erzählt der Film, wie die Polizei auf allen Ebenen eng mit der Drogenmafia verbunden ist. So verwandelt sich der Kriminalfilm mit leichter Hand in ein abgründiges Gesellschaftsporträt und eine scharfe Kritik des mörderischen philippinischen Anti-Drogenkrieges.