Josef Mengele – ein Mann ohne Eigenschaften
Lesung: Autor Olivier Guez schildert im Ulmer Stadthaus, wie der schwäbische Auschwitz-Lagerarzt nach 1945 verschwinden konnte
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ULM - Der wahre Josef Mengele ist das Gegenteil von der Figur des Auschwitz-Lagerarztes, die RomanVerfilmungen zeichnen, davon ist der französische Journalist und Autor Olivier Guez überzeugt. Im Stadthaus präsentierte er – gelesen von Schauspieler Clemens Grothe und in französischer Sprache von ihm selbst – seinen 2017 erschienenen und mit dem Prix Renaudot ausgezeichneten Roman „Das Verschwinden des Josef Mengele“. Im Gespräch mit Stefanie Wirsching schilderte er seine Sicht auf die Person des in Günzburg geborenen Kriegsverbrechers. „Er ist viel, viel kleiner als die Vorstellungen“, sagt Guez.
Die Mediokrität des Bösen reizte den Franzosen, diesen Roman zu schreiben, erzählt er. Oder eben, zu erzählen, wie ein durchschnittlicher, kleinkarierter, opportunistischer Mensch mit negativem Charakter zum Barbaren wird, weil er auf eine Ideologie trifft, die solche Taten ermöglicht, ja fordert. Mengele, schuld am Tod von zehntausenden Menschen, habe sich selbst bis zu seinem Ende als „biologischer Soldat“gesehen, der für das System tat, was er machen musste. Einer, der ausführt, was ihm aufgetragen wird. Denn nach 1945 war Mengele – sagt Guez – wieder ein „böser Typ“, jedoch kein Täter mehr. Der Autor schildert einen Menschen ohne Eigenschaften, ohne Freunde, einen Menschen, der in seinen Tagebüchern ausschließlich über sich selbst schreibt: darüber, wie er geschlafen hat, darüber, was er gegessen hat. Andere Menschen interessieren ihn nicht.
Olivier Guez hat viel gelesen und recherchiert über Mengele, um seine Innensicht des NS-Verbrechers schreiben zu können. Er war an vielen Originalschauplätzen, auch in Günzburg, sprach jedoch nicht mit Nachkommen oder recherchierte darüber, wo sich Mengele 1945 im Wald bei Günzburg verstecken konnte. Guez geht es vor allem um die Fragen, wie sich der KZ-Arzt in Argentinien eine neue Existenz aufbaute, ob er sich seiner Schuld bewusst war – und wie Familie Mengele, Inhaber einer weltweit tätigen, großen Landmaschinen-Fabrik, mit der Situation umging. „Diese Leute haben sich nie geliebt, aber gegen die Welt waren sie immer zusammen“, resümiert Guez. Das Interesse, die Firma zu schützen, sei in der Familie größer gewesen als das Interesse am ältesten Sohn, 1911 geboren und in einem katholisch-konservativen und autoritären Umfeld aufgewachsen. Deshalb wahrte die Familie Stillschweigen, selbst nach Mengeles Tod 1979.
Während sich Mengele vor seiner Flucht nach Südamerika bis 1948 auf einem Hof in Oberbayern verbarg, erweckte die Familie den Eindruck, er sei im Osten vermisst. Nach seiner Ankunft in Buenos Aires finanzierte man Josef Mengele, leugnete aber zugleich die Verbindung, berichtet der Autor. Es habe ihn bei den Recherchen immer wieder überrascht, mit welcher Leichtigkeit NS-Seilschaften im südamerikanischen Exil lebten – zumindest bis etwa 1960, bis zur Entführung Adolf Eichmanns durch den israelischen Geheimdienst; er beschreibt ein Schwimmbad mit eingefliestem Hakenkreuz und einen Park mit Hitler-Büsten.
Guez’ Zielrichtung, den metaphernbesetzten Mythos Mengele zu brechen, ihn nicht vereinfachend zur Pop-Figur des Bösen zu überhöhen, sondern das fatale Zusammentreffen eines zwar kulturbeflissenen, aber gewissenlosen Menschen mit einer schrecklichen Ideologie begreifbar zu machen, führt bisweilen ins Gegenteil: Ob Mengele in seinen 60ern wirklich so klein und alt wirkte? Niemand weiß es. Eindrucksvoll jedoch ist die Schilderung der letzten Begegnung von Josef Mengele mit seinem Sohn Rolf 1977. „Papa, was hast du in Auschwitz gemacht?“, fragt der bei Spinat mit Ei. Josef Mengele stellt sich seiner Verantwortung nicht. „Böse alte Geschichten“, sagt er. Schuldgefühle soll er nie gehabt haben.
„Das Verschwinden des Josef Mengele“(224 Seiten), übersetzt von Nicolas Denis, ist im AufbauVerlag erschienen und kostet 20 Euro.