Auch Bello mag den Brexit nicht
Britische Popmusiker und Hundehalter vereint im Kampf für den Verbleib in der EU
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LONDON - Während sich die Diplomaten beider Seiten in den BrexitVerhandlungen diese Woche den derzeitigen Optimismus zunutze machen wollen, drängen führende britische Musiker ihr Land zum Umdenken. Das „selbstgebaute kulturelle Gefängnis” namens Brexit werde eine der wichtigsten Exportindustrien, nämlich die Pop-Musik, kaputtmachen, heisst es in einem offenen Brief an Premierministerin Theresa May. Stattdessen hoffen die Künstler auf eine neue Volksabstimmung und Grossbritanniens Verbleib in der EU.
„Hin zu einem zweiten Votum“lautet die Überschrift des Schreibens, das der in London lebende irische Sänger und Aktivist Bob Geldof (Boomtown Rats) aufgesetzt hat. Im Bereich von Pop, Rock, Soul und HipHop sei Britannien weltweit führend, heißt es in Anspielung auf die berühmte Patriotenhymne „Rule, Britannia!“des Engländers Thomas Arne (1710-1778), in der von der Herrschaft über die Wellen, also die Ozeane, die Rede ist. In der Sonntagszeitung „The Observer“schreibt Geldof: „Wenn schon nirgendwo sonst, die Wellen regieren wir immer noch. Die Radiowellen. Die Wellen im Cyberspace. Die Schallwellen.“
Angst vor dem Chaos
Diese kulturelle Hegemonie, so glauben Geldof und seine Mitunterzeichner, bringe der EU-Austritt in
Gefahr, von wirtschaftlichen Folgen ganz zu schweigen. Experten schätzen den Exportwert britischer Musiker, Komponisten und Toningenieure auf jährlich umgerechnet fünf Milliarden Euro. Dieser Wert sei aber schon in den vergangenen beiden Jahren durch den Kursverfall des Pfundes um etwa 15 Prozent zurückgegangen, berichtet Geldof. Erheblich teureres Equipment, höhere Tournee- und Studiokosten würden die Musikszene ebenso belasten wie die fallenden Reallöhne der Bevölkerung.
Unterschrieben haben Geldofs Appell solche Legenden wie Sting und Jarvis Cocker ebenso wie jüngere Pop-Musiker, angeführt von Rita Ora und Ed Sheeran. Auch Berühmtheiten aus der Welt der klassischen Musik sind vertreten, etwa der legendäre Bach-Interpret John Eliot Gardiner oder der frühere Leiter der Berliner Philharmoniker, Sir Simon Rattle, neuerdings musikalischer Leiter des London Symphony Orchestra.
Die Idee einer zweiten Volksabstimmung hat in den vergangenen Monaten auch jenseits der Politik an Fahrt gewonnen. Am Sonntag sind Hundebesitzer mit ihren Hunden zum Parliament Square marschiert und haben in einem „Wooferendum“eine Volksabstimmung über den Brexit gefordert. Der humorvolle Protest soll nach Angaben der Veranstalter zu Menschen durchdringen, die beim trockenen Thema EU-Austritt schon abgeschaltet haben.
Die meisten Brexit-Gegner fürchten einen ChaosBrexit ohne Anschlussvereinbarung. Der einstige Mittelstürmer der Nationalelf und BBC-Anchorman der Fussball-Sendung „Match of the Day“, Gary Lineker, spricht davon, es müsse „Grenzen unserer Selbstverstümmelung“geben.
Wie Geldof, aber mit robusteren Methoden wirbt auch der Millionär Charlie Mullins für eine zweite Volksabstimmung. Ein riesiges Plakat „Bollocks to Brexit“am Firmengebäude des Klempnerei-Unternehmers mit 440 Angestellten erklärt den Brexit zum „Schwachsinn“. Weil „Bollocks“gleichzeitig ein Slangwort für einen wichtigen Teil der männlichen Anatomie ist, geht jetzt die örtliche Bezirksregierung von Lambeth gegen den Installateur vor: Mullins müsse den anstößigen Slogan gleich gegenüber dem Londoner Bahnhof Waterloo entfernen oder eine Baugenehmigung dafür beantragen. Der Brexit-Gegner verweist auf die legendäre Punkband Sex Pistols. Deren Album „Never mind the bollocks“(Schert Euch nicht um den Unsinn) sei schon in den 1970er-Jahren gerichtlich verfolgt und für zulässig erklärt worden.
Unklar bleibt in der Diskussion bisher, wie eine zweite Volksabstimmung zustande kommen soll. Das dafür notwendige Votum im Unterhaus würden neben den Liberaldemokraten auch die 35 Abgeordneten der schottischen Nationalpartei SNP wohl unterstützen, gab jetzt deren Vorsitzende Nicola Sturgeon zu Protokoll. Allerdings hat die Regierung sich strikt dagegen positioniert, und auch die größte Oppositionspartei Labour bleibt skeptisch.