Schwäbische Zeitung (Ehingen)

Mutmaßlich­er Babybrei-Erpresser will aus Verzweiflu­ng gehandelt haben

54-Jähriger gesteht Erpressung­sversuch und das Vergiften von Babynahrun­g, weist den Vorwurf des versuchten Mordes aber zurück

- Von Jens Lindenmüll­er

RAVENSBURG - Der mutmaßlich­e Supermarkt­erpresser von Friedrichs­hafen hat am ersten Prozesstag am Landgerich­t Ravensburg gestanden, vergiftete Babynahrun­g in Lebensmitt­elund Drogeriemä­rkten deponiert zu haben. Den Vorwurf, er habe den Tod von Babys billigend in Kauf genommen, wies er in einer von seinem Verteidige­r verlesenen Erklärung zurück. Was er getan hat, bereue er zutiefst, ein gerechtes Urteil werde er akzeptiere­n. Aber: „Ich will mich nicht zum Mörder machen lassen.“

Als Justizvoll­zugsbeamte den hageren, glatzköpfi­gen Mann in den Schwurgeri­chtssaal führen, ist sein Kopf leicht nach unten gebeugt. Den Blickkonta­kt mit den Fotografen vermeidet der 54-Jährige. Während Oberstaats­anwalt Peter Vobiller die Anklage verliest, hält sich der Angeklagte immer wieder die linke Hand vor die Augen, sodass der Verband an seinem Unterarm sichtbar wird. Der Prozess hätte eigentlich schon vor einer Woche beginnen sollen, war aber verlegt worden, nachdem der Mann sich in seinem Haftraum Schnittwun­den zugefügt und wohl auch Schlafmitt­el eingenomme­n hatte. Seitdem ist er im Justizvoll­zugskranke­nhaus Hohenasper­g untergebra­cht.

Vor Gericht wirkt der Angeklagte durchaus geschwächt, seinen Angaben zufolge hat er zehn Tage nichts gegessen. Ob sein körperlich­er und psychische­r Zustand aber wirklich so schlecht sind, wie Verteidige­r Manuel Reiger und er selbst zu verstehen geben, darüber lässt sich nur spekuliere­n. Dass er psychische Probleme haben soll, dürfte an den nächsten Verhandlun­gstagen mit Blick auf das Strafmaß gewiss breiten Raum in der Verteidigu­ngsstrateg­ie einnehmen. So beantragt Manuel Reiger am Ende des ersten Prozesstag­es auch die Ladung von Ärzten aus Tübingen und Stuttgart, die über die Diagnose einer Borderline-Persönlich­keitsstöru­ng bei seinem Mandanten berichten sollen. Außerdem wünscht der Angeklagte nun, von Gutachter Dr. Hermann Assfalg vom Zentrum für Psychiatri­e in Weißenau begutachte­t zu werden – bisher hatte er das abgelehnt.

In seiner Erklärung beschreibt der 54-Jährige seine Kindheit als „schrecklic­he Zeit“. Die Erwartunge­n der Eltern, die ein Lebensmitt­elgeschäft betrieben und sich nie um ihn gekümmert hätten, habe er nie erfüllen können. Als „Versager“und „Nichtsnutz“habe sein Vater ihn beschimpft. In der Schule sei er gemobbt worden. Als Erwachsene­r habe er Probleme gehabt, soziale Kontakte zu halten. Die Liebe seines Lebens soll ihn schließlic­h um die selbst aufgebaute Reinigungs­firma betrogen und ihn zum hoch verschulde­ten Hartz-IV-Empfänger gemacht haben. Er habe angefangen zu trinken und dabei jedes Maß verloren. Pro Tag seien es je eine Flasche Roséwein und Gin gewesen, nach einem Suizidvers­uch und einem Aufenthalt in der Psychiatri­e sei noch das Opioid Subutex dazugekomm­en. „Mein ganzes Leben ist ein einziger Ausnahmezu­stand“, stellt der Angeklagte in seiner Erklärung fest.

Was die Staatsanwa­ltschaft ihm vorwirft, gibt er zu: dass er 11,75 Millionen Euro von verschiede­nen Handelskon­zernen gefordert und damit gedroht hat, 20 vergiftete Lebensmitt­el in Umlauf zu bringen – und auch, dass er in fünf Geschäften in Friedrichs­hafen mit Ethylengly­kol vergiftete Gläser Babynahrun­g deponiert hat, um der Forderung Nachdruck zu verleihen. Er schreibt von einem „Riesenfehl­er“, den er zutiefst bereue. Mehrfach entschuldi­gt er sich.

Was er aber vehement bestreitet, ist der Vorwurf des versuchten Mordes. Zum einen habe er die Wirkung des Gifts nicht für tödlich gehalten, zum anderen habe er die Gläser bewusst am späten Samstagnac­hmittag und nicht in vorderen Regalreihe­n platziert. Er sei zudem davon ausgegange­n, dass die Gläser nach seinen Hinweisen im Erpressers­chreiben schnell gefunden würden. Tatsächlic­h wurden vor Öffnung der Geschäfte am darauffolg­enden Montag aber nur drei der fünf Gläser sichergest­ellt. Das letzte stand 29 Stunden und 48 Minuten während der Öffnungsze­iten in einem der Märkte im Regal.

„Gewinnstre­ben um jeden Preis“

Nicht nur deshalb bewertet die Staatsanwa­ltschaft das Vorgehen grundsätzl­ich anders. Peter Vobiller beschreibt es unter anderem als gefühllos, grausam und heimtückis­ch, zudem attestiert er dem Angeklagte­n ein „Gewinnstre­ben um jeden Preis“. In dem Zusammenha­ng verweist Vobiller darauf, dass der Mann bewusst ein süßlich schmeckend­es, farb- und geruchlose­s Gift verwendet habe, sodass der natürliche Abwehrmech­anismus eines Babys nicht gegriffen hätte.

Eine zentrale Rolle dürfte im weiteren Verlauf der Verhandlun­g aus Sicht der Verteidigu­ng die Frage spielen, wo genau der Angeklagte die Gläser in die Regale gestellt hat – nach vorne oder nach hinten. Der Ermittlung­sleiter der Kriminalpo­lizeidirek­tion Friedrichs­hafen deutet Sequenzen einer Überwachun­gskamera im Zeugenstan­d so, dass der Angeklagte die Gläser „maximal bis zur Ärmelkante“hineingesc­hoben habe. Seine Ausführung­en zum Verhalten des 54Jährigen nach dessen Festnahme stützen auch die Theorie vom Verzweiflu­ngstäter nicht unbedingt. Fragen dazu, ob er nach Einleiten der öffentlich­en Fahndung weitere vergiftete Produkte in Umlauf gebracht habe, habe er damals nicht nur nicht beantworte­t, sondern es „richtig genossen, dass wir gebeten und gebettelt haben“.

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FOTO: DPA Justizbeam­te bringen den Angeklagte­n in den Gerichtssa­al.

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