Der grüne Wahlerfolg und Kretschmanns Beitrag
Am Essay des Ministerpräsidenten zur Idee des Konservativen wird sichtbar, wie sehr die Grünen in die Mitte der Gesellschaft gerückt sind
RAVENSBURG - Nun also auch Bayern. Die Grünen haben auf ihrem Höhenflug zum Ende der absoluten Mehrheit der CSU beigetragen. Mit 17,5 Prozent haben sie bei der aktuellen Landtagswahl ihr Ergebnis im Vergleich zu 2013 verdoppelt – in einem Bundesland, in dem die CSU fast durchgängig allein regiert hatte. In Baden-Württemberg stellen die Grünen seit 2011 mit Winfried Kretschmann den Ministerpräsidenten – nach Jahrzehnten voller CDU-Regierungschefs. Kretschmann empfiehlt auch der CSU eine Koalition mit den grünen Nachbarn.
Eine solche Koalition ist im Jahre 2018 längst vorstellbar. Deutlich wird das nach der Lektüre von Kretschmanns jüngst veröffentlichtem Essay „Worauf wir uns verlassen wollen – Für eine neue Idee des Konservativen“. Darin wird auch klar, warum die Grünen – ehemaliges Feindbild der Christsozialen – in Bayern Alternative für gut 190 000 CSU-Wähler waren. Kretschmann macht sich auf gut 140 Seiten einen Begriff zu eigen, den die Union innerhalb der politischen Landschaft Deutschlands bislang für sich beansprucht: den des Konservativen.
Während CDU und CSU nach wie vor über die Definition des Begriffs streiten, veranschaulicht der grüne Ministerpräsident, was er mit „Konservativ“meint. Kretschmann leitet das Wort vom lateinischen „conservare“ab – also dem Bewahren. Natürlich hat er bei einem Grünen eine ökologische Note. Doch lädt der 70Jährige sein Verständnis von „Bewahren“auch religiös auf: „Und wir dürfen nicht vergessen: Gottes Schöpfung, die evolvierende Natur, haben wir vorgefunden, nicht gemacht. Jede einzelne Art besitzt einen Wert für sich – in einer Weise, die sich der klassischen Kosten-Nutzen-Rechnung entzieht.“
Landschaft statt Leitkultur
Wer „Landschaft, Klima und Natur schützt, schützt Heimat“, schreibt Kretschmann. Damit assoziiere er die Schwäbische Alb und die „Landschaften meiner Kindheit“. Diese Idee von Heimat dürfte für Menschen von der Ostalb bis ins Allgäu greifbarer sein als jede Diskussion über eine „Leitkultur“. Einem solch romantisierten Lokalpatriotismus schwört niemand ab. Doch bei Heimat, betont Kretschmann, gehe es nicht um die populistische Idee der „Volksgemeinschaft“, sondern um „Vielfalt und Zusammenhalt“. Konservativ ist bei Kretschmann, eine heterogene Gesellschaft vor dem „überbordenden Individualismus“zu bewahren.
Mit dieser Grundmotivation ist Kretschmann der Spagat zwischen grünem Idealismus und Realpolitik gelungen – was nicht allen Parteifreunden gefällt. Hingegen ist er damit Vorbild für all jene, die auf einen pragmatischen Kurs setzen. Die Grünen des 21. Jahrhunderts wären nicht so erfolgreich, würde es nicht auch Schnittmengen mit anderen Parteien geben.
Ein Beispiel: Kretschmanns Haltung zur Autoindustrie. Wenn er für eine „Politik des Und“, also der Verbindung von Ökonomie und Ökologie plädiert, löst er auch seinen Widerspruch auf, als Umweltschützer wirtschaftsfreundliche Politik im Autoland Baden-Württemberg zu machen.
Winfried Kretschmann: S. Fischer, 160 Seiten, 13 Euro.